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MÖGLICHKEITEN

Arnolds Laune war im Keller. Selbst die geliebte Zigarette half nicht, bei jedem Zug kratzte sie im Hals. Arnold steckte in einem Dilemma.

Die Kontrolle war angekündigt. Das städtische Amt hatte sich einen Taschenkalender ausgewählt, der geprüft werden sollte. Stimmten die genannten Angaben von dem verwendeten Papier. Wurden die Vorgaben von Schrift und Farbe berücksichtigt. Wurde das Qualitätsverfahren der Druckerei umgesetzt, wie das von Arnold verfasste Angebot versprach. Das ganze Programm eben.

Arnolds kleine Druckerei lebte zu einem großen Teil von städtischen Aufgaben. Und die Stadt wollte sehen, ob das Geld auch gut angelegt war. Zum dritten Mal in zwei Jahren suchte ein Beamter die Firma auf. Im Vergleich zu den bisherigen Prüfungen bemerkte Arnold bald, dass der Kontrolleur gesprächiger war als die Vorgänger. Der rundliche Herr mit dem Siegelring erzählte von einer Frau, die nicht seine Ehefrau war. Seine Frau wisse nichts von der anderen. „Und das in meinem Alter“, klagte der Mann und streichelte sich liebevoll über den Bauch. „Ich fühle mich wie zerrissen.“

Arnold gähnte innerlich. Er hörte trotzdem zu. Aufmerksam, den Kopf leicht geneigt. Dass die Prüfung für einen Vormittag angesetzt war, ließ Arnolds Verunsicherung nur unwesentlich schrumpfen. Die vorangegangenen dauerten ewig. Die Kontrolleure versanken förmlich in den Unterlagen. Erst als die Reinigungskraft den Raum belagerte, schauten sie verwundert auf.

Nach der Überprüfung zog Arnold sich in sein Büro zurück. Wie ein Gefangener lief er umher. Kaum hatte er sich eine Zigarette angezündet, drückte er sie wieder aus. Die Sache bot zwei Möglichkeiten.

Möglichkeit eins: Da es keine Auffälligkeiten bei den kontrollierten Kalendern, Flyern und Tischkarten gab, konnte der Beamte seine Prüfung kurz halten. Und konnte sich lieber im Privaten ergehen. Der Mann wusste, um welche Firma es sich handelt. Arnold führte die Druckerei in der dritten Generation. Nie gab es Beschwerden. Naja, fast nie.

Möglichkeit zwei: Vor der Vergabe neuer Aufträge musste man Arnold noch einen Besuch abstatten. Zwangsläufig. Der Akten wegen. Da seine Druckerei ohnehin keine neuen Aufträge erhalten wird, sparte sich der Beamte den Aufwand und ging gar nicht erst in die erwartete Tiefe.

Arnold, der noch immer umher lief, überlegte. Welche Möglichkeit sollte er favorisieren? Mit welcher Möglichkeit konnte er vor seine Mitarbeiter treten? Dagegen war das hormongesteuerte Hinundhergerissensein des Kontrolleurs ein Klacks.

12.08.2014



GELDLOS

In einer Mittagspause entschlüpfte mir neulich die Meinung, dass Sportler gar kein Geld bekommen sollten. Die Kollegen waren erstaunt und entpuppten sich als eifrige Befürworter des Profisports. Ob ich das genauer erklären könnte, konfrontierte man mich mit meiner Gotteslästerung. „Nein“, sagte ich, „kann ich nicht.“

Meine Meinung kam spontan, sie glich einer Laune, die wie jede andere schwer zu begründen ist. Trotzdem versuchte ich es. „Allein nach dem Spiel gegen Algerien und damit für den Einzug in das Viertelfinale erhielt jeder Spieler der deutschen Mannschaft 50.000 Euro.“

Die Kollegen sahen mich an, als wäre ich gerade einem Raumschiff entschlüpft. Ich schöpfte Hoffnung. Denn langsam schien man mich zu verstehen. An manchen Tagen fühle ich mich wirklich wie ein Außerirdischer.

„Dafür tourt ein LKW-Fahrer zwei Jahre über den Asphalt“, zitierte ich die Zeitung mit den großen Buchstaben.
„Ja und?“, entgegnete man gelassen. „Wenn es denn die Spieler nun mal verdient haben.“
Rasch wurde mir klar, dass das Argument nur mich überzeugte. Und so griff ich in meinem Stottern in eines der Regale, die der Sozialarbeiter gern nutzt, wenn er sich bedrängt glaubt. „Mir geht es um das Ungleichgewicht“, nörgelte ich und schwenkte die hehre Fahne des Sozialen. „Im Vergleich zu den Kitas und Schulen und wie die finanziell versorgt sind, ist das mit den Sportlern kriminell.“

Schweigend packten die Kollegen ihre Brotdosen ein. Geräuschlos tranken sie ihren Kaffee aus. Ich atmete tief durch. Es bestand kein Grund zur Aufregung. Das kollektive Gähnen galt den Stunden, die vor uns lagen. Nicht mir.
Die Pause war vorbei.

05.07.2014



VERMITTLUNG

Wie naiv die Leute sind. Wirklich. Ich will mich ja nicht beschweren, schließlich lebe ich von deren Blauäugigkeit. Aber manchmal, glauben Sie mir, manchmal kann ich nur den Kopf schütteln.

Entschuldigung, dass ich Sie einfach so anquatsche. Ich bin der Rüdiger. Gestern erst habe ich bei einer Immobiliengesellschaft angerufen. Vorher habe ich mich natürlich im Netz kundig gemacht. Bin ja kein Anfänger. Habe also geschaut, wer sitzt bei denen auf dem entsprechenden Stuhl. Hier ein Probeanruf, da eine Testmail. Als ich sicher war, an wen ich mich zu wenden hatte, bin ich in die Spur.

Kaum hatte die Frau am anderen Ende der Leitung ihren Spruch aufgesagt, grüßte ich zurück. „Willkommen an Bord, Frau Wagner!“, sagte ich und stellte mich als Kollege aus der dritten Etage vor. Die Frau bedankte sich artig. Ich hatte recherchiert, dass sie erst seit wenigen Tagen ihr Büro bezogen hatte. Sorry, länger als eine Woche wird sie dort nicht sitzen. Da bin ich mir sicher.

„Liebe Frau Wagner“, ging ich auf Angriff, „ich brauche umgehend die Liste der Anbieter.“
„Welche Anbieter?“, fragte Wagner unsicher. Ein gutes Mädchen.
„Welche Anbieter?“, polterte ich. „Sie machen mir Spaß. Der Dachdeckerfirmen natürlich. Hören Sie, ich soll heute noch für Herrn Dr. Steinlein eine Expertise erstellen.“

Die junge Frau hustete nervös. Dr. Steinlein war ihr unmittelbarer Vorgesetzter. Ein ziemlich cholerischer Typ. Mein Telefonat mit dem reichte mir. Die Wagner nörgelte unwillig. Ich trat aufs Gas. „Jetzt kommen Sie mir nicht wegen Dienstweg“, unterbrach ich sie. „Schicken Sie mir die Liste und ich werde bei unserem Chef ein gutes Wort für Sie einlegen. Sie wissen schon, wegen Ihrem Urlaub in der Probezeit.“

Dass mit dem Urlaub war gepokert, trifft aber meist ins Schwarze. Und was soll ich Ihnen sagen? Eine halbe Stunde später lag die Liste in meinem Mailfach. Mit freundlichem Gruß von Mandy Wagner. Ach Mandy! Fast hätte die mir leid getan. Ich schickte die Liste gleich weiter an den Chef der Dachgut GmbH. Der schneiderte ruck zuck ein Angebot, wobei er seinen Preis unter den der Konkurrenz drückte. Nicht zu plump, versteht sich. Trotzdem eine wahre Verlockung für die Zahlenheinis der Immobiliengesellschaft. Denn der letzte Jahresbericht von denen war nicht gerade der Hit. Der Chef von Dachgut jedenfalls braucht den Auftrag. Der hat einige Mäuler zu stopfen. Wenn Sie so wollen, profitiert jeder von meiner Vermittlung. Der Teufel soll mich holen, wenn ich meine Provision um sonst bekomme.

In diesem Sinne, wenn ich Ihnen mal helfen kann. Rufen Sie mich an. Hier meine Karte. Schönen Tag noch!

09.11.2013


 


KEIN PROBLEM

Petra wusste nicht, wann sie das letzte Mal derart klar darüber nachgedacht hatte zu kündigen. Der Gedanke, ihren Job hinzuwerfen, wuchs von Tag zu Tag. Wie ein Zahnschmerz, der seine Zeit brauchte, um wahrgenommen zu werden. Bei ihrem Hinwerfen würde es ihr auf das Gleich ankommen. Sie wollte keine Aussprache, um sich umstimmen zu lassen, um durch irgendeine Vergünstigung noch einmal einzulenken. Sie wollte auch keine für alle Seiten quälende, sich über Monate hinziehende Übergabe. Sie wollte hinschmeißen. Bei der Vielzahl der von ihr betreuten Projekte wäre der Knall groß. Aber nicht riesig. Die Firma würde nicht unter-, die Meinungen der Kollegen aber auseinandergehen. Einige Kollegen würden sich betroffen zeigen. Andere bekämen endlich ihre Sicht bestätigt. Diese hatten es von Anfang an gewusst. Einig wäre man, dass Petra, eine krankhafte Ja-Sagerin und latente Zustimmerin, ihr plötzliches Nein allein im radikalen Auftritt äußern konnte. Ihre scheinbar reich gefüllte Vorratskammer an Höflichkeitspillen und Diplomatiesalbe war leergefegt. Übrig war ein trotziges, gleichsam infantiles „Ich spiele nicht mehr mit!“
Rasch, noch im Dunst der Aufgeregung, würde man sich zu helfen wissen, weil man sich helfen musste. Das Leben geht weiter. Petra sah das nüchtern. Der Lauf der Dinge war halt so.

Das Telefon klingelte. Verwundert sah Petra auf. Gerade versprach der Tagesschausprecher für die nächsten hundert Tage Regen. Petra seufzte zufrieden. Das Wetter war ein Geschenk für alle Schwarzseher. Sie ging zum Telefon. Am anderen Ende der Leitung hörte sie die aufgeregte Stimme einer Kollegin. Was Petra hörte, kam ihr bekannt vor. „… krank … wichtige Unterlagen ... Termine ...“
„Jetzt mal langsam“, beruhigte Petra ihre Kollegin. „Ich kümmere mich darum. Gleich morgen früh setze ich mich dran. Ach was, das macht mir nichts aus. Wirklich nicht!“

18.10.2013

 



HOCHHAUS


Auf Dienstreisen ging Karl gern zum Friseur. Man kannte ihn nicht. Und er würde den Friseur nie wieder sehen. Der Friseursalon in B. hatte seinen Sitz in der ersten Etage eines Hochhauses. Das gefiel ihm. Karl mochte Hochhäuser. Wenn nichts mehr geht und der Krebs wäre sein letzter Begleiter, würde ein Hochhaus helfen. Ein solches Haus sei die perfekte Altersvorsorge, sagte er immer.

 

Er wäre lange nicht da gewesen, begrüßte ihn die Friseuse. Karl lächelte über die Bemerkung. Als die Frau seine Haare wusch, griff sie jedoch seine Gedanken auf. Die Frau schien ihn wirklich zu kennen. Oder es genügte ihr, den Kopf eines Menschen zu berühren, um zu wissen, was der andere denkt. Schon drei Leute hätten sich hier das Leben genommen, erklärte sie ihm. Mit einem Sprung aus einer der oberen Etage. Und das innerhalb von zwei Jahren. „Ein Mann fuhr mit einer Bewohnerin rauf“, sagte sie. „Der armen Frau, die während der Fahrt einen Apfel aß, soll er gesagt haben, dass er nachher ebenfalls etwas essen muss. Das war gelogen. Denn keine fünf Minuten später sprang der Mann vom Dach des Hauses.“
Inzwischen saß Karl vor einem großen Spiegel, sah sein rundes Gesicht, sah die sprechende Friseuse hinter ihm.
„Eine Frau sprach vor dem Haus einen Bewohner an. Sie würde gern in diesem Haus wohnen, schwärmte die. Ob sie sich mal ihre Wohnung anschauen dürfe. Und was soll ich Ihnen sagen? Der Mann nimmt die fremde Frau mit hoch. Oben angekommen will er noch rasch seiner Besucherin ein Glas Wasser holen. Als er aus der Küche kommt, hat sich die fremde Frau bereits vom Balkon gestürzt.“ 

Die Friseuse legte den Kamm und die Schere zur Seite. „Der Hammer ist“, sagte sie, nahm einen kleinen Spiegel und präsentierte Karl die dunkle Seite des Mondes, „dass man die Leute so lange liegen lässt. Sicher, man legt ein Tuch über sie. Doch Totenruhe ist dem Wind schnuppe. Immer wieder hebt er das Tuch an. Mal sieht man ein Bein, dann wieder einen Arm.“
Die Stellen, wo die Menschen aufschlagen, könne man noch lange sehen, sagte die Frau. „Sieht aus wie altes Öl, was ausgelaufen ist.“

Wie Öl, dachte Karl, als er wieder auf der Straße stand. Wie altes Öl.
Sein Handy klingelte. Es war die Friseuse. Sie kannte also auch seine Nummer. „Das nächste Mal, wenn Sie kommen“, sagte die Frau, „da grübeln Sie nicht wieder so. Da reden wir von was anderen. Abgemacht?“

13.10.2013