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EXPERTIN

Das Paket hatte der Bote in einem Reisebüro hinterlegt. Die Frage, womit Reisebüros Geld verdienen, war damit für mich endlich geklärt. Mit der Vermittlung von Reisen sicher nicht. Jeder vernünftige Mensch bucht seinen Trip nach Spanien oder gen Afrika bequem am heimischen Computer. Die Ferienprofis an der Ecke überleben, weil sie Pakete annehmen, für sich behalten oder an die rechtmäßigen Besitzer ausgeben.

Die Inhaberin des Reisebüros hieß Sturm. Möglich, dass ihre Eltern insgeheim hofften, ihr Töchterchen wird mal eine zünftige Wetterfee. Frau Sturm war beschäftigt. Sie trank Kaffee aus einem eimerähnlichen Gefäß und ließ sich von einem Kunden die Vorzüge ihres Telefons erklären. Stunden später widmete sie sich meiner Wenigkeit. „Wo soll‘s denn hingehen“, stellte sie, ganz Profi, ihre Fangfrage.
Ich erklärte ihr meinen Besuch.
„Dann schauen Sie mal, ob Sie Ihren Schatz finden.“

In einem Nebenraum, der früher als Abstellkammer diente, jedenfalls roch es hier nach Waschmittel und Bohnerwachs, lagen an die hundert Pakete und Päckchen. Nach dem ich meinen Schatz gefunden hatte und den Empfang quittieren wollte, sagte die Frau: „Wieder nicht zu Hause gewesen, als die Postfrau zweimal klingelte?!“
„Ich war arbeiten“, sagte ich und sah in ein wölfische Grinsen, das mich an Jack Nicholson erinnerte.
„Da muss ich Ihnen einen Witz erzählen“, sagte die Frau und behauptete: „So viel Zeit muss sein.“ Noch ehe ich ihr widersprechen konnte, legte sie los: „Geht ein Syrer durch die Straße und spricht einen Mann an: ‚Ich danke Ihnen, dass ich in Ihrem Land bleiben darf. Sie sind doch Deutscher?‘ ‚Nein‘, antwortet der Passant. ‚Ich bin Albaner.‘ Der Syrer geht weiter. Eine Frau, die ihm entgegenkommt, spricht er an: ‚Ich danke Ihnen, dass ich in Ihrem Land bleiben darf. Sie sind doch Deutsche?‘ ‚Nein‘, erwidert die Frau. ‚Ich komme aus Rumänien.‘ Der Syrer war am Verzweifeln. ‚Wo sind denn die ganzen Deutschen?‘, fragt er. ‚Na‘, sagt die Frau, ‚die sind arbeiten.‘“

Die Reiseexpertin lachte. So kamen ihre Zähne zur vollen Geltung. Den Vergleich zur Kaffeetasse mussten sie nicht scheuen. Im Gegenteil. Zähne und Tasse stammten aus dem gleichen Material. Entschlossen klemmte ich mir das Paket unter den Arm. Noch so ein Witz und ich würde das Paket zurückgeben. Samt Inhalt.
„Nicht, dass Sie jetzt denken, ich hätte was gegen Ausländer“, erklärte die Frau. „Schließlich kommt mein Mann aus der Türkei. Also ursprünglich kommt er aus dem Irak, dann ist er in die Türkei. Als es dort nicht mehr ging, ist er hier her. Das ist schon lange her. Ausländer ist der nicht mehr. Ein richtiger Deutscher ist der. Trinkt jeden Abend sein Bier und schwört auf Bayern München. Wenn Sie wissen, was ich meine.“

Obwohl ich nicht wusste, was sie meinte, grüßte ich und floh.

11.10.2015



PROTOKOLL

War meine Armbanduhr in den letzten Tagen immer wieder nachgegangen, so hatte sie sich vorgestern dazu entschieden, ihrer eigentlichen Arbeit überhaupt nicht mehr nachzukommen. Die Zeiger blieben stehen. Ich konnte der Uhr gutzureden, ich konnte sie schütteln, es tat sich nichts.

Der Uhrmacher, den ich bei derartigen Problemen aufsuche, ist ein stiller Mann. Schweigend nahm er meinen Zeitmesser und trug ihn in den hinteren Raum seines Ladens.

Ich kannte die Situation. Fünf Minuten musste ich nun warten. Ich hatte fünf Minuten, um mich auf die verschiedenen Klänge der Uhren einzulassen. In dem Geschäft hingen und lagen zig verschiedene Modelle. Und jede Uhr tickte anders. Sanft, weich, derb, klopfend. Es war alles dabei. Uhren sind eben auch nur Menschen, stellte ich fest. Die einen pochen lautstark auf ihre Eigenheiten, während andere so lautlos sind, dass man ihre Existenz in Frage stellt. Weil man sie nicht hört, denkt man, sie sind nicht da.

Plötzlich stand der Uhrmacher vor mir. Er lehnte an seinem Ladentisch und schaute mich an. Waren die fünf Minuten schon um? Ich wusste es nicht. Umgeben von einem Wald von Uhren, in einem tickenden Uhrwald stehend, hatte ich die Zeit vergessen.

Als sich der Meister sicher war, dass ich ihn bemerkte, sagte er tonlos: „Es war die Batterie.“
„Gott sei Dank“, sagte ich und atmete erleichtert auf. „Dafür reicht mein Taschengeld noch. Dachte schon, es ist der Zünder.“

Ich wartete auf eine Reaktion. Taschengeld, Zünder – es sollte ein Witz sein. Es gab keine
Reaktion. Der Uhrmacher war nicht nur geräuschlos, er war auch ohne Humor.
„Wollen Sie das Protokoll mitnehmen?“, fragte mich der Mann. „Oder soll ich es Ihnen per Mail zuschicken?“

Dass für einen simplen Batteriewechsel ein Protokoll angefertigt wurde, wunderte mich. Vielleicht hatte der Uhrmacher ja doch Humor. Oder machte er sich über mich lustig? Dann musste ich an die vielen Pfleger, Erzieher und Sozialarbeiter denken. Die stöhnen seit einiger Zeit darüber, dass sie mehr damit beschäftigt sind, Protokolle zu erstellen, statt mit den Patienten, Kindern oder Klienten zu sprechen. Jetzt also hatte der Nachweisvirus den Uhrmacher erreicht.

„Welches Protokoll meinen Sie?“, fragte ich.
„Ihr Bewegungsprotokoll.“
„Wie bitte?“
„Seit dem letzten Batteriewechsel tragen Sie einen Sensor mit sich. Dem entgeht nichts. Sie waren, wenn ich das sagen darf, die ganze Zeit gut zu orten. Zumindest Ihre Uhr. Nachts und an den Wochenenden bewegte sie sich nicht. Da hatten Sie die Uhr wohl abgelegt.“

Ich blickte auf meine Uhr. Völlig unschuldig schaute sie von meinem Handgelenk zu mir hoch. Egal, wo ich in den nächsten Tagen sein werde, die Batterie würde es sich merken. Ob ich im Kino oder im Büro sitze, ob ich durch einen Park gehe oder durch eine Drogerie, dieses kleine Ding in meiner Uhr wüsste es noch Monate später.

„Nun habe ich die Batterie ausgetauscht“, sagte der Uhrmacher. „Somit steht Ihnen das Protokoll zu.“

01.10.2015

 


TAUSCH

Dass man im Supermarkt hin und wieder die Artikel anders platziert, um den schlummernden Kaufimpuls zu reizen, bin ich gewohnt. Da liegt die streichelzarte Margarine plötzlich dort, wo gestern die handzahmen Seifen lagerten. Oder die Getränke findet man an der Stelle, wo sonst die Kinder all die Zuckerbomben aus den Fächern kramen.

Dass Kaufhäuser gleichfalls von diesem seltsamen Umräumwahn befallen sind, war mir bisher neu.

Gestern suchte ich nach ein paar leichten Schuhen. Es genügt schließlich, dass ich selbst immer schwerer werde, da sollen mir die Schuhe eine gewisse Leichtigkeit verleihen. Bald schon wunderte ich mich über die ausgestellten Modelle. Viele der Schuhe waren mit waffenähnlichen Absätzen bestückt. Andere wurden nach vorn hin derart spitz, dass mir schon vom Hinsehen die Füße anschwollen. Als ich ein paar Meter weiter nach einem Hemd suchte, fand ich in der Hauptsache sonderbar geschnittene Blusen in noch sonderbareren Farben.

Die Verkäuferin, die meine Not mit ihrem geschulten Kann-ich-Ihnen-helfen-Blick verfolgte, trat auf mich zu. Ob ich denn wüsste, flötete sie, welche Größe meine Frau hätte.
Über Nacht hatte man auf Anraten eines Gutachtens mal eben die Männerklamotten in die Frauenabteilung gebracht. Und die Frauensachen fand man jetzt in den Regalen, in denen bis vor einer Woche die Männersachen lagen. Was der Tausch den Marketingexperten eingebracht hat, kann ich nur vermuten. Was er mir gekostet hat, kann ich dagegen ganz klar benennen: Nerven.

25.09.2015

 


 
SONDERBAR



Auf dem Weg zur Arbeit begegne ich jeden Morgen einer Katze. Meist lümmelt das Tier müde in einer Toreinfahrt. Wobei ich nicht ausmachen kann, ob die Katze auf Tour geht, oder gerade von ihrer Party kommt. Meist sage ich was Nettes. „Na, du kleiner Mäusefänger.“ Oder: „Hey, Tiger!“ Die Katze beginnt sich daraufhin ausgiebig zu putzen oder gähnt unerschrocken vor sich hin.

Das geht nun schon eine Weile so.

Als ich heute wieder an der Katze vorbei lief, ließ ich das mit dem Grüßen. Am Abend zuvor hatte ich im Fernsehen einen Beitrag gesehen. Menschen, hieß es da, die ein Tier allzu sehr vermenschlichen, stehen mit einem Bein schon in der Wunderlichkeit. Als ich das hörte, bekam ich einen Schreck. Um mich stand es schlecht. Ich war in Gefahr! Eindeutig! Keine zwei Jahre und ich stürme mit einem Bademantel bekleidet durch die Stadt. In der Waschanlage einer Tankstelle verlange ich dann: „Bitte einmal Glanzwäsche.“

Also beachtete ich das Tier nicht weiter und passierte die Toreinfahrt. Nach wenigen Metern bemerkte ich, dass ich nicht allein war. Stumm und mit starrem Blick trottete die Katze neben mir her. Das kann nicht sein, sagte ich mir. Die Katze kennt mich doch gar nicht. Vielleicht hat sie Hunger? Am Ende ist sie krank. Mit einer Katzenhaarallergie ist nicht zu spaßen. Und so eine Putz- und Gähnneurose ist nicht weniger gefährlich.
Ich ging weiter. Auch die Katze lief weiter. Weiter neben mir. Irgendwann wurde es mir zu bunt. Ich blieb stehen und beugte mich etwas, schließlich sollten die Leute nicht denken, dass ich mit einer Katze rede.

„Du bist aber heute komisch“, schnitt mir das Tier das Wort ab. „Hast du schlecht geschlafen? Oder weshalb grüßt du nicht?“

17.09.2015

 



WIEDERSEHEN

Auf einem Trödelmarkt kommen Menschen ins Gespräch. Sie tauschen sich über die Sammlung schmuddliger Bierdeckel aus, die in einer Bananenkiste auf ihre Überfahrt warten. Oder die Leute fachsimpeln über die Tagebücher eines großen Feldherren, von dem Historiker meinen, dass der des Lesens und Schreibens gar nicht mächtig war.

Gewöhnlich genieße ich beim Gang über einen solchen Markt das unaufgeregte Stimmengewirr. Manchmal denke ich, warum können Menschen nicht immer so miteinander reden, wie auf einem Trödelmarkt. Friedlich und höflich. Ohne jede Eile. Und ohne jedes Ausrufezeichen.

Doch heute schreckte ich auf. „Volkmar“, hörte ich eine Stimme neben mir, „du schuldest mir noch drei Schraubzwingen. Weißt du nicht mehr? Ach Volkmar, du wirst dich wohl nie ändern?“

Ich versuchte mich zu sortieren. Der Mann sprach mit mir. Zumindest nannte er meinen Namen. Und Schraubzwingen gehörten in meinem früheren Leben zu meinen wichtigsten Werkzeuge. Wie gesagt, das ist lange her. Aber geliehen? Und dann gleich drei?

„Der Karl sagte, dass du noch im Krankenhaus liegst. Dagegen stehst du hier, als hättest du nie einen Herzinfarkt.“

Krankenhaus? Herzinfarkt? Der Mann wusste mehr als ich.

„Lass gut sein, Volkmar. Dass wegen den Zwingen, geschenkt. Hauptsache du bist gesund.“

Ich atmete auf. Und drehte mich um. Zwei ältere Männer standen an einem der Tische und gaben sich die Hand. Friedlich und höflich. Ohne jede Eile. Und ohne jedes Ausrufezeichen.

10.09.2015

 



EINLADUNG



Die Stadtwerke und der öffentliche Nahverkehr haben meine Treue gelobt. Damit nicht genug. Die städtischen Einrichtungen bedankten sich per Brief bei mir für mein Nichtfremdgehen. Ich war gerührt. Ehrlich! Wann bedankt sich schon einmal ein Unternehmen bei seinem Kunden? In der Regel signalisieren deren Preise, die in schöner Regelmäßigkeit steigen, dass das Leben eben Bewegung ist. Und dass ich in einer Partnerschaft lebe, aus der ich schwerlich raus kann. Strom brauche ich wie schwarzen Tee. Und von A nach B muss ich auch noch kommen.

Nun also ein Dankeschön. Als Präsent gönnt man mir die Gelegenheit nachts in einem Kaufhaus nach Herzenslust zu schlemmen und zu flanieren.

Ich wurde skeptisch. Warum sollte ich, um zu schlemmen und zu flanieren, ausgerechnet nachts in ein Kaufhaus einrücken? Tags mögen diese Tempel als sinnvolle Zeitfresser dienen. Aber nachts? Mein Magen reagierte gereizt. Ein Gutschein für ein indisches Lokal hätte es auch getan.

Die schlechte Laune, die sich in mir ausbreitete, hatte das Potenzial einer spätsommerlichen Depression. Denn ein Geschenk, nein, ein Geschenk darf man nicht ausschlagen.
Doch, sagte meine Tante Thea immer. Wenn das Geschenk eine Zumutung ist.

03.09.2015



PEANUTS

Wussten Sie, dass die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten regelmäßig die Preise nennen, was ein Tatort oder eine Folge der Chefin kostet? Seit ich das weiß, bin ich beruhigt. Ich weiß nun, wohin mein Geld fließt. Schließlich zahle ich jeden Monat eine bescheidene Gebühr von 17,50 Euro für diese Anstalten.

Eine Sendeminute vom Tatort beträgt 15.000 Euro. Eine ganze Freitagabendfolge im Zweiten geschmeidige 443.000 Euro. Der Alte, Die Chefin, Der Kriminalist – so zuverlässig die Herrschaften sind, so teuer sind die auch.

Ein Tatort kostet also über eine Million Euro. Eine Zeitung hat ausgerechnet, dass mir ein Sonntagabendkrimi im Ersten ca. zehn Cent wert ist. Und für Sportereignisse lege ich, wie jeder andere Bürger ca. 72 Cent auf den Tisch.

Dumm nur, dass ich keinen Tatort sehe. Zumindest seit Schimanski in Rente ist.
Und Sport? Fremde Frauen oder Männer dabei zu beobachten, wie sie laufen, schwimmen oder schwere Kugeln durch die Luft stoßen? Ohne hinzusehen weiß ich, dass die schneller, flinker oder viel weiter werfen als ich. Das sei den Sportlern gegönnt. Und mir erspart.

Dagegen verfolge ich jede Kochsendung. Egal wann ich den Fernseher einschalte, immer ist irgendwer am Kochen. Es wird gebrutzelt, geschält und gerieben. Keine zehn Minuten und ich bin satt. Ein bisschen mehr und ich platze. Aber dick machen mich diese Sendungen trotzdem nicht. Vielleicht liegt das daran, weil sie so billig sind. Und wie billig die sind! Die fallen gar nicht ins Gewicht. Magere 170 Euro kostet eine Minute bei einer lustigen Herd-und-Pfannen-Show.

27.08.2015



VOR UND NACH

Die Uhr, die mich jeden Tag am Handgelenk begleitet, ist um ein, zwei Minuten vorgestellt. Gemäß des alten Schlachtrufs: Fünf Minuten vor der Zeit entpuppt sich die wahre Peinlichkeit. Vermittelt mir der silberne Zeiger, dass ich einen Termin verpassen werde, würde ich mich nicht augenblicklich vom Schreibtisch lösen, befriedet mich der Gedanke, dass ich mich voller Absicht narren lasse. Umso verwunderter hörte ich heute eine Ermahnung, dass ich mich beim nächsten Mal doch bitte an die vereinbarte Zeit zu halten habe. Meine Uhr, welche mir mit ihrem vorauseilenden Gehorsam bisher treu diente, spielte von einer Minute zur anderen die aufmüpfig launige Rebellin. Sie ließ sich gehen und hinkte ohne einen Funke Ehrgeiz der eigentlichen Zeit hinterher.

20.08.2015

 


PAKET

Manchmal erfasst mich ein schlechtes Gewissen. Es nagt an mir, das Gewissen, das schlechte. Schon seltsam, dass es weder nagt noch kribbelt, wenn ich mal ein gutes Gewissen habe. Das gute Gewissen ist einfach da. Oder eben nicht. Das schlechte Gewissen ist zu spüren, es treibt mich um. Und es nagt.

Beim Bummeln durch die virtuellen Läden kaufe ich gern mal eine Kleinigkeit ein. Die Bücher oder Zigarren könnte ich natürlich gut und gern auch im Laden an der Ecke holen. Doch daran denke ich natürlich nicht, wenn ich das Produkt gerade auf dem Bildschirm und Bing! mit einem Klick im Warenkorb habe. Nach ein, zwei Tagen klingelt es an der Tür. Da ich ziemlich weit oben wohne, kann ich in Ruhe meinen Kaffee austrinken, bis der Paketzusteller an meiner Tür auftaucht. Und wenn der Mann dann vor mir steht, hechelt der minutenlang und verteilt mit einem Handtuch seinen Schweiß auf der Stirn. Anfangs habe ich den schwitzenden Bringern gern mal ein Glas Wasser gebracht. Das war ein Fehler. Wenn ein Zusteller einmal in der Küche sitzt, dann sitzt der dort. Für die nächsten hundert Jahre sitzt der da. So fertig ist der.

Also bin ich gestern gleich nach dem Klingeln in den Hausflur gestürzt. Und bin mit flinken Füßen dem Zusteller entgegen gelaufen. In der ersten Etage passte ich den guten Mann ab.

„Ha!“, begrüßte ich ihn in Erwartung großer Dankbarkeit. „Hier bin ich!“
„Was soll das?“, brummte mich stattdessen der Mann an.
„Ich wollte Ihnen das viele Treppensteigen ersparen.“
„Bin ich etwa behindert?“, blaffte mich der Mann an und ließ mich stehen. Mit riesigen Schritten stieg er die Treppen hinauf. „Das Gerät“, erklärte er mir, „auf dem Sie gleich unterschreiben zählt alle Etagen mit. Und wenn ich das Paket bereits in der ersten statt bei Ihnen unterm Dach abgebe, dann muss ich dem Gerät den Nachbarn nennen, bei dem ich Ihr Paket abgegeben habe. Können Sie mir folgen?“

Der Mann sah vom Treppenabsatz zu mir runter. So oder so: Ich musste ihm folgen. Was blieb mir übrig?

„Ist ein kluges Ding“, fügte der Mann hinzu.

Ich war beeindruckt. Schwer beeindruckt. Von der Technik. Von dem Arbeitsdruck.
Irgendwann hörte ich den Mann durch das Haus rufen: „Was jetzt? Ich würde Ihnen gern Ihr Paket geben. Ich habe nämlich noch ein paar andere Touren.“

15.08.2015




GEBET

Als ich mir letzte Woche die Alte Kapelle in R. anschauen wollte, platzte ich direkt zur Mittagsmesse rein. Ich setzte mich dazu. Vielleicht ein Dutzend Menschen lauschten den Ausführungen eines älteren Mannes. Leider war der nicht mehr gut bei Stimme. Immer wieder rutschten ihm die Silben oder ganze Wörter weg. Obendrein nuschelte der Mann stark. Gut, dachte ich, es ist Urlaubszeit. Und der gute Mann ist die Vertretung. Doch die phonetische Unpässlichkeit störte die Anwesenden nicht weiter. Ohnehin schienen die im eigenen Gebet versunken und vermittelten dabei nicht den Eindruck, auf anregende Worte von außen angewiesen zu sein.

Nach der Messe verabschiedete der Pfarrer jeden Gast an der Tür. Als ich an der Reihe war, lächelte mich der Geistliche freundlich an. „Unser Urlauber!“, rief er zu meiner Überraschung aus. „Und wen vertreten Sie?“

07.08.2015



FERNSEHER

Menschen mit schizophrenen Schüben fühlen sich oft von den Sprechern im Fernsehen angesprochen. Im doppelten Sinne. Die kranken Menschen sind davon überzeugt, dass der Moderator mit ihnen spricht. Dass dagegen der Zuschauer mit dem Fernseher in Kommunikation tritt, ist häufig bei Sportübertragungen zu beobachten. Um das Suchen nach der Fernbedienung überflüssig zu machen, hat jetzt eine japanische Firma einen Fernseher entwickelt, der die Gespräche derer registriert, die vor ihm sitzen. Sage ich: „Lauter!“, so stellt sich der Ton automatisch um eine Stufe höher. Ob der Kommentar, den ich, als der Fußballexperte vom Sofa aus gegenüber dem Schiedsrichter aufgrund einer eindeutigen Fehlentscheidung kundtut, auch den Unparteiischen auf dem Spielfeld erreicht, sagte der Mitarbeiter der Firma bei der Vorstellung des neuen Gerätes nicht.

05.08.2015




MUT



Als ich mit dem Karton neuer Kochtöpfe gerade das Kaufhaus verlassen will, läuft mir mein Freund Weinstein über den Weg. „Ziemlich mutig von dir“, sagt er.

Ich schaue auf den Karton. Hatte ich mich vergriffen? Haben die stählernen Küchengehilfen im Internet etwa eine miese Bewertung erhalten? Oder hatte ich trotz Preisnachlass und der Sommer-Treue-Freundschafts-Werbedings-Aktion doch zu teuer gekauft?

Weinstein genießt meine Unsicherheit. „In deinem Alter sich noch neue Töpfe anzuschaffen“, lästert er schließlich. „Das ist schon ziemlich mutig.“

03.08.2015



BESUCH

Hatte gestern Besuch. Saßen gemeinsam auf dem Balkon. War ein bisschen langweilig. Jedes Wort musste ich dem Besuch aus der Nase ziehen. Und wählerisch war er auch. Kein Tee, kein Keks. Nicht mal eine von meinen guten Zigarren. Aber was sollte ich machen? Trotz verschlossener Tür saß der plötzlich auf dem Balkon. Und blieb bis zum Abend.

01.08.2015



ZUCKER

Als ich meine Wünsche genannt und die Verkäuferin die Brötchen in eine viel zu große Tüte verstaut hatte, fragte die Frau: „Und noch was Süßes dazu?“

„Danke“, sagte ich. „Aber ich habe schon genug Zucker im Blut.“

„Ach“, stieß die Frau aus und sah mich erstaunt an. „Für so süß hätte ich Sie jetzt gar nicht gehalten!“

26.07.2015



FAN

Die Haare des Mannes, der mein Büro betrat, waren lang und schwarz. Sie reichten ihm bis weit über die Schulter. Seine ebenso schwarze Kleidung ließ genügend tätowierte Haut sehen. Auf den ersten Blick erkannte ich blutspeiende Gespenster. Oder waren es verwelkte Blumen? In der Nase hing ein silberner Ring, der jede Bewegung des Mannes registrierte und um ein paar Sekunden später mit leichten Zuckungen nachäffte. Auf dem T-Shirt, ein verwaschenes und eingerissenes Stück Leinen, konnte ich den markanten Schriftzug einer Musikgruppe lesen.

„Wow!“, tönte ich und nannte den Namen der Band.
Der Mann nickte und stellte lächelnd fest: „Motörhead ist cool!“
„Stimmt“, sagte ich, „die Gruppe ist cool.“

Auf Konzerten der Band genieße ich es, mitten unter Leuten zu stehen, die meine Musikrichtung mögen. Doch abseits der Konzerte kenne ich niemand, der Motörhead hört. Im Gegenteil. In der Regel ernte ich beschämtes Kopfschütteln oder fragende Blicke, wenn ich meine Lieblingsgruppe verrate.

Auch der Mann sah mich fragend an. Auf ihn wirkte ich wohl nicht unbedingt wie ein Fan dieser Gruppe. Das ganze Gesicht schob sich zu einer Kraterlandschaft zusammen und verschluckte Lächeln. Der Mann suchte nach einer Musikschublade, in die er mich stecken könnte. Harmloser Jazz mit viel Geklimper. Oder vielleicht Van Morrison.

Nach einigem Zögern straffte sich die Haut über seinen Augenbrauen. Selbst das Lächeln tauchte wieder auf. Der Mann hatte sich entschieden. So oder so. Er hatte sich entschieden. Langsam kam er auf mich zu. Ich spielte mit dem Gedanken, den Rückwärtsgang anzutreten. Von wegen ‚Arglistige Erschleichung von Sympathiepunkten‘. Noch bevor ich zu einem Entschluss kam, boxte der Mann sacht gegen meine Schulter. Ich zuckte zusammen. War das ein Ritterschlag? Oder ein Warnschuss?
„Motörhead sind die Größten“, brummte der Mann. „Und cool!“

19.07.2015
 


VERÄNDERUNG

Natürlich weiß Frank S., dass das Leben aus Veränderungen besteht. Frank, der nächstes Jahr fünfzig Jahre wird, weiß nur zu gut, dass alles immer wieder überdacht, alles immer wieder umgekrempelt wird. Der neue Chef, das neue Briefpapier in der Firma, die ständig veränderten Verfahrensanweisungen aus der Zentrale. Jetzt sprach man sogar vom Umzug in ein größeres Gebäude. Jeden Morgen, wenn er sein Mailfach öffnet, erwarten ihn mindestens drei neue Anweisungen. Die natürlich sofort eins zu eins umgesetzt werden müssen.
Manchmal hat Frank Mühe, den Überblick zu behalten, all den Anforderungen nachzukommen. In Momenten, in denen er glaubt, sich zu verzetteln, atmet er tief durch. Denn er weiß auch, wenn er nach acht Stunden das Büro verlässt, dass daheim keine Änderung auf ihn wartet. Daheim ist der Ort der Gewohnheit, der eingespielten Abläufe. Frank liebt es, wie sich die Abende und die Wochenenden gleichen. Lange sitzt er mit Ute beim Abendessen. Sie unterhalten sich über ihren Tag und lästern über die Dinge, die ihnen Stunden vorher noch den letzten Nerv raubten. Dann lassen sie sich auf das Sofa fallen und zappen durch das Fernsehprogramm. An den Wochenenden fahren sie in den Garten, besuchen Freunde oder planen den nächsten Urlaub.

Als Frank gestern nach Hause kam, sah er das aufgeregte Blinken des Anrufbeantworters. Seine Frau wollte sich schon lange von dem Gerät trennen. „Wer, bitte, benutzt heute noch Anrufbeantworter?“, lamentierte sie mindestens einmal im Monat. „Im Zeitalter von Handy und Mailadresse taugt so ein Ding doch nur noch als Stromfresser!“

Frank drückte auf die Wiedergabetaste.

„Mein Schatz, ich weiß, dass du noch nicht da bist, deshalb spreche ich aufs Band.“

Frank hielt den Atem an. Es war Ute, die da sprach. Kein Zweifel! Die Stimme auf dem Band gehörte seiner Frau.

„Sei nicht sauer“, sagte sie, „aber ich habe jemand kennengelernt. Nichts Ernstes! Trotzdem muss ich das erst mal sacken lassen. Das verstehst du sicher. So was plant man ja nicht. Das kommt, wie es kommt. Deshalb habe ich eben mal meinen Resturlaub genommen und bin nach -. Ach was. Ich bin weggefahren. Das muss reichen.“

Frank schüttelte den Kopf. Machte sie Witze? Wollte sie ihn testen? War er jetzt Teil einer dieser blöden Vorabendserien? Gut, Ute hatte mitunter schon einen seltsamen Humor. Aber so was traute er ihr nicht zu.

„Bitte mach dir keine Sorgen“, hörte er weiter. „Es ist alles im grünen Bereich. Vertrau mir einfach! Und was die neue Situation betrifft. Ach Schatz! Ich bin mir sicher, dass das kein Akt für dich ist. Veränderungen machen dir ja nichts aus. Zumindest nicht so viel wie mir. Ich dagegen muss mich erst mal wieder orten.“

16.07.2015
  



KRISE

Meine sieben Sachen liegen auf dem Band des Supermarkts. Ich warte. Es tut sich nichts. Die Schlange stockt. Die Kundin vor mir sucht ihr Geld. Findet es nicht. Schließlich entdeckt sie es doch. Bekommt sie dafür Finderlohn? Endlich rüttelt das Band. Schiebt meine Dinge einen Millimeter voran. „Finden Sie das in Ordnung?“, spricht mich von hinten jemand an.
„Was meinen Sie?“, frage ich und drehe mich verwundert um.
„Dass Sie zwischen Ihren Waren und der Kundin vor Ihnen so viel Platz lassen“, nörgelt der junge Mann. „Mein Wagen könnte schon längst ausgeräumt sein, wenn Sie den Zwischenraum besser nutzen würden.“

Ich schaue auf das Band. Der Mann hat recht. Zwischen meinen Waren und den der Kundin vor mir ist für einen guten Meter nur das schlierige Schwarz des Laufbands zu sehen. Ja und? Ungläubig schaue ich wieder zu dem Mann. Bin mir nicht sicher, ob er das ernst meint. Er meint es ernst. Seine Augen funkeln aufgeregt. Seine Mundwinkel zucken. Vielleicht funkeln seine Augen wegen der Hitze. Und die Mundwinkel zucken, weil die Augen funkeln.

„Halt die Schnauze!“, will ich den Typ vom Hof bellen. Doch ganz Sozialpädagoge frage ich: „Haben Sie wirklich keine anderen Sorgen, die Ihnen auf der Seele liegen?“
Der Mann schüttelt den Kopf und sagt (ganz BWL-Student): „Im Moment ist dies für mich das Primäre!“

11.07.2015



ABSCHIED

Auf dem Bahnsteig stehen eine Frau und ein Mann. Beide sind nicht mehr die jüngsten. Die Kinder sind aus dem Haus. Und letzteres ist bis zur Hälfte abgezahlt. Endlich Zeit, den Kollegen oder die Nachbarin wahrzunehmen. In den letzten Jahren hat man viel verpasst. Jetzt gilt es aufzuholen. Um jeden Preis. Mag der noch so billig sein.

Filmreif umarmt und küsst sich das Paar. Ihre winzigen Sektflaschen halten sie in der ausgestreckten Hand wie geschrumpfte Pokale. In den Flaschen stecken Strohhalme, die am oberen Ende geknickt sind. Lustige Galgen aus der Puppenstube.

Nach jedem Kuss nehmen die beiden ihre Halme in den Mund und saugen begierig das sprudelnde Gesöff. Als der Zug einrollt, umarmt sich das Paar heftiger. Ihr Kuss gleicht einer Wiederbelebung. Allmählich tauen lange vergessen geglaubte Geister wieder auf. Und der rauschende Abschied muss für die nächsten hundert Jahre trösten. 

10.07.2015 


ICH ISST EIN ANDERER

Ein Mann sitzt mir im Bistro gegenüber. Die zerschlissene Lederjacke, die er trägt, ist ihm zu eng. Auch die Jeans und die derben Stiefel haben schon bessere Tage erlebt. Die Haare hat der Mann auf dem Hinterkopf zu einem windschiefen Turm aufgeschichtet. Der Senf läuft dem Mann quer über die Hände. Und das Fett der Bratwurst tropft im Sekundentakt auf den Pappteller. Immer wenn der Mann zubeißt, knackt es bedrohlich, als fehle seinem Kiefer die letzte Ölung.

Wie gebannt sehe ich auf das animalische Schauspiel. Mich überkommt so etwas wie ein Phantomschmerz. Allein vom Zusehen habe ich den Geschmack von Schweinefleisch auf der Zunge. Und das nach Jahren der Fleischlosigkeit.

Als der Mann mit Essen fertig ist, wischt er sich eher flüchtig über den Mund. Sein Taschentuch ist nicht größer als eine Briefmarke. „Was soll‘s“, sagt der Mann und sieht zu mir rüber. „Eigentlich bin ich ja Veganer. Aber wie das so ist, komme ich viel zu selten dazu.“

02.07.2015



ANDERS

An dieser Stelle muss ich etwas loswerden. Was jetzt kommt ist privater Natur. Wem das peinlich ist, dem sei gesagt, lesen Sie weiter. Es wird nicht peinlich.

Auch ich benutze die eine Suchmaschine im Internet. Die, von der alle meinen, dass die alles von einem weiß. Oft habe ich mir vorgenommen, den Anbieter zu wechseln. Das wäre so einfach. Es gibt fast so viele Suchmaschinen, wie es Suchbegriffe gibt. Trotzdem komme ich auf die Firma mit dem grünen G immer wieder zurück. Die sechs Buchstaben scheinen mit unsichtbaren Magneten bestückt zu sein. Die Suchanfragen, die mich umtreiben, werden von jener Plattform förmlich angezogen.

Jetzt habe ich erfahren, dass ich mit ein paar Klicks mein Porträt einsehen kann. Ohne dass ich es merke, werden nämlich ständig all meine Suchanfragen zur Erstellung eines Phantoms gefiltert.

Mein Porträt war ungemein erhellend. Die Firma hat mich altern lassen. Anders gesagt, sie hat mich um einige Jahre älter gemacht. Und dass ich Abenteuer- und Actionfilme bevorzuge war mir ebenfalls neu. Da versuche ich seit Jahren, mit dem Rauchen aufzuhören und mit dem Joggen anzufangen. Die tüchtigen Jungs und Mädels im fernen Amerika machen aus mir einen anderen Menschen. Und das im Handumdrehen.

So oder so beweisen diese Einschätzungen, dass die Firma eben nicht alles weiß. Diese Vermutung beruhigte mich ungemein. Dieses Valium wirkte eine ganze Weile. Bis ein Freund mich und meine Blauäugigkeit auslachte. Genau das sei die Strategie der großen Krake, warf mir der Freund an den Kopf. „Du glaubst dich sicher, weil irrige Daten dich völlig fremd ausmalen. Dabei wissen die genau, welche Schuhgröße du hast und für welche Filme du dich wirklich interessierst.“

Vielleicht sollte ich doch mal zur Abwechslung eine Alternativsuchseite nutzen. Kann ja nicht schaden. Am Ende machen die aus mir einen anderen anderen Menschen. Einen, der jünger ist und der Volksmusik liebt. Damit könnte ich leben. Das mit dem Alter.

25.06.2015


 GEWOHNHEIT

Wenn es das Wetter zulässt, sitzt Schröter mit seiner Frau auf dem Balkon. Während sie in ihren Illustrierten blättert, trinkt er sein Bier und verfolgt stumm die Pirouetten der Mauersegler.

„Der Wenzel fährt mit seiner Frau an die See“, sagte Schröter gestern und wischte sich den Schaum vom Mund. „Jedes Jahr fährt der an die See.“
Die Frau blätterte eine Seite weiter. Schröter trank einen weiteren Schluck, schaute ein weiteres Mal in den Himmel.

So ging der Nachmittag hin. Irgendwann wurde die Sonne müde und rollte sich langsam hinter die Häuser.

„Ich könnte das nicht“, meinte Schröter plötzlich.
„Was könntest du nicht?“, fragte seine Frau, ohne von der Zeitschrift aufzublicken. „Jedes Jahr an die See fahren?“
„Den ganzen Tag um die Bäume kreisen“, sagte Schröter und nickte den Vögeln zu.
„Das könnt ich nicht.“

20.06.2015

 


DOPPELT

Die Frau stand mit ihrem Wagen hinter mir im Supermarkt. Erst als die Verkäuferin meine Waren über den Scanner schob, legte die Frau ihre Dinge auf das Band. Zwei Packungen Spagetti, zwei Äpfel, zwei Beutel Zwiebeln, zwei Zahnpastatuben, zwei Packungen Zigaretten.

Ich zahlte und ging etwas zur Seite. Beim Einpacken ließ ich mir Zeit. Ich mag Leute, die um ihre Lebenseinstellung kein Geheimnis machen. Sie stehen zu ihr. Und die Frau gehörte offensichtlich der Doppelt-hält-besser-Bewegung an.

„Kann ich bitte doppelt zahlen?“, fragte die Frau im Ton einer Feststellung.
Die Frau hinter der Kasse sah auf. „Wie meinen Sie das?“, fragte sie verwundert.
„Sie sagten zehn Euro fünfzig“, antwortete die Frau tonlos. „Ich möchte gern einundzwanzig Euro bezahlen.“
„Aber“, wehrte die Verkäuferin ab. „Das geht nicht.“
„Wo ist das Problem?“, fragte die Frau.
„Ich kann Ihnen nur in Rechnung stellen, was Sie einkaufen.“
 „Ich zahle doppelt“, sagte die Frau. „Basta! Sie machen plus. Und mir geht es gut. Also, wo ist das Problem?“

15.06.2015




XXL

Als ich vor einiger Zeit in einem Kaufhaus ein Hemd anprobierte, bemerkte ich rasch den kritischen Blick der Verkäuferin. Das Kleidungsstück sei mit Sicherheit eine Nummer zu groß, stellte sie fest. Und um dieser verbalen Ohrfeige eine handgreifliche nachzuschieben, hob die Verkäuferin mit ihren gepflegten, dennoch ungemein spitzen Fingern den Stoff meiner linken Schulter an und meinte trocken: „Woher kommt bei den Männern nur dieser Komplex in Bezug auf Größe?“
 
Vor ein paar Tagen zerbrach mir der Schuhanzieher. Es war keine Katastrophe und doch ein minimaler Einschnitt in den Ablauf meiner morgendlichen Handlungen. Ich hatte es weder besonders eilig, noch trat ich mit dem falschen Fuß dem Schuh entgegen. Von wegen rechter Fuß in den linken Schuh. Oder linker Schuh in den rechten Fuß. Von der Ferse her hörte ich lediglich ein unsicheres Knacken. So ultimativ wie endgültig. Und da schon hielt ich den oberen Teil des Löffels in der Hand. Der untere Teil verblieb als lächerlicher Torso im Schuh.
Nun schlüpfe ich mit dem kleineren Rest des Hilfsmittels in die Schuhe. Auch wenn dies eine leicht erhöhte Balance abverlangt, lange wurde ich tänzerisch nicht derart gefordert, beschert die Dezimierung des Löffels kein unlösbares Problem. Wie gesagt: Keine Katastrophe.
Dennoch ausreichend, dass sich eine Frage in die Wiedervorlage schmuggelte: Was will mir der zerbrochene Schuhanzieher sagen?

War der Schuhanzieher einfach zu groß, wenn er auch mit der Hälfte seiner Arbeitsfläche voll umfänglich die Leistung bringt, zu welcher ich ihn vor Jahren erwarb?

An dieser Stelle kommt die philosophierende Verkäuferin ins Spiel. Hatte ich noch in dem stickigen Kaufhaus wenig von dem verstanden, was die Frau mir mitteilte, ging mir jetzt ein Licht auf. Ein ganzer Lampenladen flackerte plötzlich unter meiner Stirn.

Genau genommen umgebe ich mich wirklich neben Kleidungsstücken auch mit Gegenständen, die viel zu üppig für mich sind. Lampen, Tische und Stühle zum Beispiel. Alle diese Utensilien sind zu einer ungesunden Ausdehnung getrimmt. Und dass, um ihre und damit meine gewöhnliche Durchschnittlichkeit mit einem kecken Vielvielgrößer zu verschleiern. Täglich aufs Neue, rund um die Uhr.

11.06.2015



BESUCH

Als sich die Delegation gutgekleideter Männer und Frauen von Arnold und seinem Kollegen verabschieden, fragt der Kollege: „Wer war das denn?“

Die Kameraleute umschwirren den Tross in einer sonderbaren Mischung aus Langeweile und Sensationsgier. Der Gruppe voran schreitet ein großer, weißhaariger Mann, der einige Worte mit Arnold am Messestand gewechselt hatte.

„Keine Ahnung“, antwortet Arnold, der noch ganz aufgekratzt von dem Gespräch ist. „Vielleicht der von der Handwerkskammer.“
„Nein“, stößt der Kollege aus, „der von der Kammer ist viel kleiner. Das war einer von ganz oben“, sagt der Kollege.
„Oben?“
„So wie der gesprochen hat. Und was für Fragen der gestellt hat. Ich glaube der war vom Ministerium.“
„Ein Minister?“
„Ja, da bin ich mir sicher. Das war ein Minister. Warte“, der Kollege überlegt.
„Der Tiller?“, fragt Arnold vorsichtig.
„Wie kommst du denn auf den? Der Justizminister besucht doch keine Ausstellung für Autozulieferer.“
„Dann -.“
„Ich hab’s“, der Kollege sieht Arnold erwartungsvoll an. „Das war der Wirtschaftsminister.“
„Ach was“, reagiert Arnold. „Der Wirtschaftsminister ist so ein dicker Typ. Den habe ich neulich in einer Zeitschrift gesehen.“
„Stimmt. Irgendein hohes Tier war das.“
Arnold grübelt, kann jedoch keinen klaren Gedanken fassen. „Der Bundeskanzler?“
„Quatsch. Wir haben eine Bundeskanzlerin.“
„Stimmt auch wieder.“
„Das war einer von ganz oben. Weißt du, was ich meine? Von der EU. Ja! Jetzt weiß ich es. Das war der EU-Präsident.“
„Glaubst du?“
„Aber klar. Das war der EU-Präsident. Mensch Arnold, du kommst jetzt ganz groß raus. Ich bin echt stolz auf dich!“
„Ich weiß nicht“, wehrt Arnold kleinlaut ab. „EU-Präsident. Hat der nicht so eine Brille?“
„Unter dem EU-Präsidenten stellen wir uns doch nicht hier her.“
„Vielleicht war es doch nur -.“
„Was?“
„Vielleicht war es der Dingens.“
„Der Siebolt?“
„Ja.“
Arnolds Kollege wird blass. „Das kann sein“, keucht er. „Wenn ich es mir genau überlege. Stimmt. Das war der Siebolt. Eindeutig!“
Jetzt verändert sich auch Arnolds Gesichtsfarbe. „Und ich habe dem -.“
„Und du hast aus dem Nähkästchen geplaudert“, brummt der Kollege und weicht von Arnold ab. „Was du dem alles erzählt hast?! Als gibt‘s kein Morgen.“
„Aber -.“
„Nicht aber! Du warst schon immer eine Plaudertasche. Nimm mir es nicht übel. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler ist, dich an einen Messestand zu stellen.“
„Aber -.“
„Dem Chef der Konkurrenz unser Verfahren für die neue Reifenbeschichtung zu erklären, so bescheuert muss man erst mal sein.“
„Aber -.“
„Das gibt böses Blut. Und was für böses Blut. Bei den vielen Fernsehheinis. Puh, in deiner Haut möchte ich nicht stecken.“

05.06.2015



REIFE

Fünf Minuten hatte ich Aufenthalt. Doch als mein Zug zehn Minuten später in den Bahnhof einrollte, war ich fast dankbar, den längst abgefahrenen Anschlusszug nicht hinterherzulaufen zu müssen. Mit einer Umhängetasche, einem Rucksack und einem Koffer auf Rädern hätte dies ein tolles Motiv abgegeben. Minuten später hätte man die Bilder schon tausendfach im Netz angeklickt. Und bewertet. Stattdessen trottete ich in ein kleines Lokal und bestellte mir einen Kaffee. Am Nachbartisch saß ein Mann, der keinen Koffer dabei hatte. Im Gegenteil, der Mann machte den Eindruck, als sei er schon lange vor der ersten Gleislegung hier Stammgast gewesen. Klein, dick und mit ungesunder Gesichtsfarbe hing er über seinem Glas mit hellbrauner Flüssigkeit und tupfte sich dicke Schweißperlen von der hohen Stirn.

„Würde ich die Jahre der Reife summieren“, philosophierte der Mann, „die ich mit jedem Glas zu mir nehme, ich wäre längst der älteste Mensch. Der reifste Mensch wäre ich obendrein.“

Der Mann erhob sein Glas und nippte daran. Der Eiswürfel, der in dem Getränk torkelte, klirrte aufgeregt. Als der Mann das Glas wieder absetzte, lächelte er noch rosiger als zuvor. Mit diesem Zaubertrank hätte ich meinen Anschlusszug glatt erwischt.

„Dagegen schlagen sich die Jahre der Reife, die all die Tropfen den edlen Fässern entzogen, bei mir in gestiegenen Zuckerwerten und erhöhten Blutdruck nieder. Ist schon selstam, am Ende geht alles in die Höhe oder steigt. Dabei geht alles den Bach runter. Oder etwa nicht? So oder so landet man unter der Erde.“

In der Trunkenheit gibt es eine Phase, in der man alles klar sieht. Klarer als sonst. Die schwierigsten Sätze fließen fehlerfrei aus dem Mund und Bruchrechnungen löst im Handumdrehen. Doch keine fünf Minuten später liegt ein großer Stein auf der Zunge und das Sprechen verkommt zum hilflosen Lallen. Der Mann sonnte sich in der Phase der Klarheit, als würde die Finsternis schon an seinem Gaumen kitzeln.

„Was das zu erwartende Alter angeht, lässt sich mein Arzt nur schwer zu einer Diagnose hinreißen. Sie kennen das bestimmt! Was die Weißkittel nicht wissen, erklären die einem mit lateinischen Begriffen. Und wenn denen die Begriffe ausgehen, reden die Ärzte von gesunder Ernährung. Neulich reagierte mein Arzt genervt: Wenn Sie so weiter machen, sagte der mir, dann müssten Sie eigentlich seit drei Jahren tot sein.“

Der Mann trank sein Glas leer und stand auf. Ohne auf die Uhr zu sehen sagte er: „Ich muss los, sonst verpasse ich meinen Zug.“
Etwas verwundert über den plötzlich Aufbruch des Mannes, fiel mein Blick auf die Uhr. Auch der nächste Zug war ohne mich losgefahren. 

30.05.2015

 


BRUCH


„Bei mir wurde eingebrochen“, klagt meine Nachbarin, als sie mir über den Weg läuft. „Stellen Sie sich das vor! Letzte Nacht!“ 

Grauenhaft, denke ich, nachts von Einbrechern heimgesucht zu werden und -,

„Und“, greift meine Nachbarin meinen Gedanken auf, „und den Besuch nicht zu begrüßen, wie es sich gehört. Und warum? Weil man schläft. Weil man vom ganzen Bruch nichts mitbekommt. Im Gegenteil“, sagt die Nachbarin, „mitgenommen haben die was. Ohne dass ich dazu kam, denen was anzubieten, haben die sich was genommen. Ich weiß schon, deshalb steigt man ja bei wem ein, den man nicht kennt und der obendrein noch schläft. Trotzdem! Meine Handtasche? Die kann ich verschmerzen. Dass ich denen aber nicht mal eine Tasse Kaffee angeboten habe, das wurmt mich schon. Was werden die jetzt über mich denken? Was glauben Sie?“

Die Nachbarin sieht mich an, als erwarte sie wirklich eine Antwort von mir. Wenn ich ihr sage, dass ich letzte Nacht bei ihr eingestiegen bin, um mein Taschengeld aufzubessern, dann dreht die gute Frau wahrscheinlich ganz durch.

„Der Mensch ist schlecht“, behaupte ich. „Aber die Handtasche“, sage ich und gehe weiter, „die kriegen Sie zurück. Versprochen!“

24.05.2015



WIEDER DA

Die letzte Dienstreise führte Fred Schubert in seine Heimatstadt. In einer längeren Konferenzpause setzte er sich in einen Linienbus, um die Gegend aufsuchen, in der er groß geworden war.

Im Bus bemerkte Schubert einen Mann, der mit seinem massigen Körper gleich zwei Plätze einnahm. Dennoch schaffte es der Mann, sich zu einer älteren Frau drehen, die hinter ihm saß. Ohne Punkt und Komma sprach der Mann, als würde dadurch der Bus schneller fahren.

„Jetzt bin ich wieder da“, stellte der Mann plötzlich fest, nachdem er über das Wetter, die Benzinpreise und die Krankengeschichte seines Hundes referiert hatte. „Nach so vielen Jahren. Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre das her sind. Jedenfalls neunundachtzig war ich schon einmal hier. Ich wollte das Sterben des Sozialismus mit eigenen Augen sehen. Als alter Linker war das nicht einfach, kann ich Ihnen sagen. Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie so einfach anspreche. Wissen Sie, wo ich her komme, da hört man dem anderen nicht mehr zu. Alle reden, von morgens bis abends reden die Leute. Aber keiner hört zu. Hier ist das anders. Hier hört man dem anderen zu.“

Das Handy des Mannes klingelte. Kaum hielt er das Telefon am Ohr, donnerte der Mann: „Das ist jetzt schlecht. Hören Sie Herr Dr. Kleinert, ich bin gerade in einem Meeting. Ich rufe Sie später zurück.“

Schubert musste schmunzeln. Er nahm sich vor, die öffentlichen Verkehrsmittel öfter zu nutzen. Schubert liebte Comedy.

Inzwischen hatte der Mann das Handy verstaut und sich wieder zu der Frau gewandt. „Also die Häuser sahen damals schlimm aus“, klagte er. „Ganz schlimm. Trotzdem blutete mir das Herz. Das Land, was da am Abgrund stand, war lange meine stille Hoffnung. Klar, aus sicherer Entfernung findet man selbst einen Löwenkäfig behaglich. Was ich sagen will, nie im Leben wäre ich hergezogen. Auch nicht als Linker. Meine Firma lief super. Das kleine Reihenhaus war abgezahlt. Und Bamberg ist ja auch eine schöne Stadt.“

Die ältere Frau stand auf und ging zur Tür.

„Vielen Dank“, rief der Mann. „War ein nettes Gespräch mit Ihnen.“
Grußlos stieg die Frau aus. Und der Mann spähte nach einem neuen Opfer.
Schubert sah angestrengt aus dem Fenster und suchte nach einer passenden Schublade für den Typen. Linkes Kapitalistenschwein. Oder: Bayrischer Möchtegern-Ossi.

„Jetzt bin ich wieder da“, wiederholte der Mann, als sich Schubert in Sicherheit glaubte und kurz zu ihm schaute.
„Nach so vielen Jahren“, kam es von der Plaudertasche. „Ich weiß gar nicht, wie viele Jahre das her sind. Jedenfalls neunundachtzig war ich schon einmal hier.“
„Schade“, sagte Schubert, als seine Haltestelle angezeigt wurde. „Aber ich muss raus.“
Der andere Mann lächelte traurig. „War nett mit Ihnen“, sagte er geknickt. „Wissen Sie, wo ich her komme, da hört man dem anderen -.“

Mit einem dumpfen Geräusch schloss sich die Tür und schnitt dem Mann das Wort ab.
„Jetzt bin ich wieder da“, sagte Schubert, er schaute umher. Unsicher und fremd ging er durch die Straßen, in denen er aufgewachsen war. „Nach so vielen Jahren.“  

22.05.2015
 



GUT

Frau Wenzels neuer Fußbodenreiniger verleiht dem Bad einen Hauch Bergfrühling. So steht es auf der Verpackung. Und es stimmt. Wenn Frau Wenzel die Augen schließt, riecht sie den Frühling ganz deutlich. Dieser Duft ist unschlagbar, überhaupt nicht zu vergleichen mit dem Geruch auf der Straße. Und die laute Radiomusik von nebenan? Die stört Frau Wenzel nicht, kommt die Musik doch aus einer gut besuchten Schänke unten im Tal.

Frau Wenzel ist echt beeindruckt. Endlich weiß sie, wo sie dieses Jahr ihr Zelt aufschlagen wird. Im heimischen Bad. Keine Kataloge wälzen, keine Portale im Internet abgrasen. Ihr Entschluss steht fest. Und Herr Wenzel? Ihren Mann wird Frau Wenzel nicht lange überreden müssen. Herr Wenzel gehört ohnehin zur Gruppe der militanten Reiseverweigerer. Mit jeder Veränderung, ob der Umgebung oder der abendlichen Biersorte, schrumpft Herr Wenzel um einen Millimeter. Und Herr Wenzel ist schon kein Riese.

Wenn er den Vorschlag hört, wird Herr Wenzel die Zeitung aus der Hand legen und spontan eine kleine Ansprache an seine Frau halten. „Gut, Schatz!“  

16.05.2015



ÜBERDAUERT

Wollte man in meiner Heimatstadt zu DDR-Zeiten eine bestimmte Schallplatte, suchte man das Musikhaus Tappert auf. Der Chef griff dann unter den Ladentisch und zauberte mit einem Lächeln das Objekt der Begierde hervor. Auch ich erwarb dort in schöner Regelmäßigkeit Platten, die der Klassenfeind zu einem Spottpreis dem Arbeiter- und Bauernstaat überließ.

Das Geschäft, keine zehn Minuten vom Bahnhof entfernt, hat längst seine Tore geschlossen. Das Haus ist heute eine stille Ruine, deren Schaufenster einzig für Plakate dienen. Als wüssten die übergroßen Aufkleber um die Geschichte des ehemaligen Ladens werben sie für Konzerte von Solisten und Bands.

10.05.2015



ANDERS


Das Wartezimmer beim HNO-Arzt war voll. Einige Patienten standen. Hatten die einen einen Mann im Ohr, hatten die anderen was in den falschen Hals bekommen. Der Rest von ihnen war einfach nur verschnupft.

Als ein Stuhl frei wurde, setzte ich mich. Neben mir eine junge Mutter mit ihrer Tochter. Stoisch blätterte das Kind ein Bilderbuch nach dem anderen durch. Bemerkenswert daran war, dass das Mädchen die Bücher verkehrt herum hielt. Die in den Büchern abgebildeten Menschen liefen auf dem Kopf. Um die Bilder aber richtig zu sehen, verrenkte sich das Kind den Hals.

„Du hältst das Buch verkehrt“, sagte ich, nachdem ich mir das Treiben eine Weile angeschaut hatte. Das Mädchen überhörte meinen Ratschlag. Sie blätterte stattdessen weiter und drehte dabei den Kopf.

„Mädel“, sagte ich, „du musst das Buch so halten.“ Ich riss ihr das Buch aus der Hand und rettete die Menschheit. Mit einem Schlag standen alle Menschen wieder auf den Füßen.

Die junge Mutter schaute pikiert. Noch bevor die etwas von Freier Erziehung, übergriffiges Reinhängen und einem schweren Kindheitstrauma durch Kritik sagen konnte, schaltete sich das Mädchen ein. „Das ist blöd“, gab sie mir zu verstehen. „Das ist echt blöd.“
„Was ist blöd?“
„Dass ich jetzt nicht mehr erkennen kann, ob die auch Poltypen in der Nase haben?“
„Polypen“, verbesserte ich. „Po-ly-pen. Ohne T.“

Inzwischen hatte das Mädchen die alte Ordnung wieder hergestellt. Das Buch war wieder umgedreht. Erneut standen die abgebildeten Leute auf dem Kopf, als kannten sie es nicht anders.  

Die Ärztin rief mich auf. Und als ich aus dem Behandlungszimmer trat und nach meiner Jacke griff, hob das Mädchen ihren Kopf. „Genau“, sagte sie und sah mich verwundert an. „Ohne T. Bitte ohne T. Ich hasse Tee.“

06.05.2015



TAGEBUCH

Neulich öffnete ich mein Tagebuch. Das Buch ist auf meinem PC unter der Datei Schuldenbuch abgespeichert. Das Buch, was ich aufschlug, war das von zwei Jahren. Dort hinein notierte ich den Eintrag von heute. Ich wollte nicht nur die Zeit anhalten, ich wollte sie zurückdrehen. Das hätte mich nachdenklich stimmen müssen.

Letztens klickte ich mich erneut versehentlich in ein älteres Tagebuch, um eine Notiz zu hinterlassen. Verwundert stellte ich fest, dass ich zu dem betreffenden Datum bereits etwas geschrieben hatte. Wie kam das? Hatte ich mich selbst überholt? Hatte ich schlafwandlerisch am Tisch gesessen und der Nachwelt ein Nachwort hinterlassen, ohne etwas zu bemerken?

Eine mittelschwere Unruhe befiel mich. Kurz bevor mich totale Panik erfasste, akzeptierte ich die Tatsache: Ich habe schon einmal gelebt. Ohne dass es mir bisher bewusst war, führe ich mein zweites oder drittes Leben. Das soll ja vorkommen. Nur spricht man ungern darüber.
Beim Lesen der alten Tagebucheinträge stellte ich fest, dass ich auch in meinem früheren Leben von einem seltsamen Drang beseelt war. Dem Zwang, selbst den kleinsten Pups unbedingt aufzuschreiben, um später von ihm zu zehren.

30.04.2015 



PROBEN


Seit Jahren lasse ich mir den schwarzen Tee aus dem Norden kommen. Ich könnte den Tee auch im Supermarkt kaufen. Aber dann käme der Tee nicht aus dem Norden. Sondern aus Indien. Und da pflücken sicher Kinder den Tee. Das könnte ich nicht. Tee trinken, der von Kindern geerntet wurde. Die Kinder sollen in die Schule gehen. Oder wenigstens vor dem Computer sitzen. Und keinen Tee für Wohlstandsmitteleuropäer sammeln.

Wenn ich die Tüten verstaut habe, falte ich den Karton zusammen und stelle ihn auf den Flur. Dort steht die Pappe, bis ich sie mit den alten Zeitungen und den noch älteren Rechnungen in die Tonne stecke. Zuvor verströmt der leere und abgelegte Karton einen aromatischen Duft. Den Teepackungen sind regelmäßig Gewürzproben beigelegt. Das riecht so heftig, dass jedes Mal der Kater meiner Nachbarin an der Tür klingelt. Wenn ich öffne, schiebt mich Sultan zur Seite und nimmt meinen Flur in Beschlag. Keine Ahnung, an was der Kerl denkt, wenn er den Geruch inhaliert. Vielleicht macht ihn der Geruch high. Fehlt noch, dass Tierschützer vor meiner Tür aufkreuzen und mich wegen Verstoß gegen das Betäubungsmittelgesetz anschwärzen.  

Vor Jahren bat ich den Versand auf die Geschenktütchen zu verzichten, aus Furcht, der Schwarztee würde Schaden nehmen. Freundlich ignorierte man mein Ansinnen. Und legte fortan zwei kleine Tüten bei.

22.04.2015
 



BEGRÜSSUNG

Reinhold Messner hatte sich angekündigt. Wochen vorher sicherte ich mir eine Karte. Man kann ja nicht wissen. Bei dem Job, den der Mann ausübt. Wenn Messner abstürzt, dann liegt das nicht am Alkohol.

Gestern war es soweit. Auf dem Weg in den Saal kommt mir der berühmte Bergsteiger entgegen. „Schön, dass Sie da sind“, sagt er und schlendert an mir vorbei.
Wie vom Blitz getroffen bleibe ich stehen. Der Bezwinger aller Achttausender hat mich gegrüßt. Der Antarktiswanderer hat mit mir gesprochen. Mir ist, als stehe ich auf dem Mount Everest und stopfe mir die Tasche mit ein paar Sternen voll.

Wozu Sauerstoffmangel doch gut sein kann.

Der Saal platzt aus allen Nähten. Menschen über Menschen. Keine zwei Minuten, nachdem ich auf meinem Platz sitze, betritt Messner die Bühne. Fast schüchtern verneigt er sich. Die Leute klatschen freundlich. Ich dagegen klatsche wie verrückt. Und weil ich kalte Füße habe, trample mit denen. Als der Beifall abebbt, rückt Messner das Mikrofon zurecht und begrüßt die Zuhörer mit einem leisen: „Schön, dass Sie da sind!“

17.04.2015



BIRD

Am Eingang des Lokals stehen zwei Männer. Die zwei unterhalten sich. Ein Taxi fährt vor, hält. Die Tür öffnet sich, ein Mann steigt aus. Sein langer schwarzer Mantel folgt ihn wie ein Schatten. Durch das offene Fenster reicht der Mann dem Fahrer einen Geldschein. Noch während der Fahrer nach Wechselgeld sucht, hat sich der Mann mit dem Mantel bereits den Wartenden zugewandt. Überschwänglich breitet der Mann die Arme aus und geht mit seinem Oberkörper auf Tuchfühlung. Die Männer tun es dem Mann gleich. Doch führen sie ihre Arme auf dem Rücken des Mannes zusammen. Ganz klassisch umarmen sie den Mann. Der jedoch belässt es bei seinen Andeutungen. Er beugt sich nach vorn und streckt seine Arme aus. Wie ein Vogel, der auf eine günstige Windböe hofft.

17.04.2015
 



GEKONNT

In der Bahn sitzt mir eine Frau gegenüber. Ich kenne die Frau vom Sehen. Die Frau ist blind. Zum Laufen braucht sie einen Stock. An der Jacke steckt ein rundes Abzeichen. Darauf drei schwarze Punkte. Ich sehe die Frau oft in der Bahn. Heute sitzt sie mir gegenüber.

Die Pupillen der Frau wandern. Mal nach rechts, dann nach links. Auch ihre Finger sind nervös. Bis sie einem Ziel verfolgen, in der Tasche kramen und eine kleine Schere herausziehen. Wie selbstverständlich beginnt die Frau sich die Nägel zu kürzen. Der Nagel des linken kleinen Fingers hat es ihr besonders angetan. Erst fährt sie mit der Zungenspitze über den Nagel, dann setzt sie die Schere an die Stelle. Die Pupillen wandern und wandern. Kaum ist die Frau mit ihrer flüchtigen Maniküre fertig, steckt sie die Schere in die Tasche zurück. Für einen kurzen Moment verharren ihre Pupillen, sehen mich an.

Ihr Blick verunsichert mich. Spielt die Frau? Dienen ihr der Stock und die drei schwarzen Punkte als Türöffner? Mit der Ausstattung bekommt sie schließlich überall einen Sitzplatz. Und in den Geschäften bedient man sie, als sei sie privat versichert.

„Sie fragen sich sicher“, sagt die Frau, „wie ich das mit der Schere gemacht habe?“
Gegen meinen Willen nicke ich, wenn auch zaghaft.
„Übung“, sagt die Frau, deren Pupillen längst wieder wandern. „Alles Übung! Kann ja nicht wie ein Zombie rumlaufen, nur weil ich blind bin.“

13.04.2015




FROSCH


Als die Kellnerin die Bestellung aufnehmen will, beginnt der Gast zu husten. Dieser bringt nur ein dünnes „Bitte“ hervor, dann versagt seine Stimme. Erneut hustet er, räuspert sich.
„Soll ich später kommen?“, fragt die Kellnerin besorgt. „Brauchen Sie noch etwas Zeit?“
„Nein“, krächzt der Gast. „Es ist nur... Ich habe… Ich habe einen Frosch im Hals.“
„Das kann nicht sein!“, sagt die Kellnerin und wirft dem Gast einen eisigen Blick zu. „Wir führen keine Fleischgerichte. Wir sind ein vegetarisches Restaurant.“

10.04.2015



OSTERERGUSS


Es macht mich wütend, dass man in den vier Wänden, die man beziehen will, nicht mal zur Probe wohnen kann. Dabei werden überall Dinge zum Schnuppern angeboten. Im Fitnesscenter, in der Parfümerie. Wenn man eine neue Arbeit sucht, kann man manchmal wochenlang vorher vor Ort schnuppern. Das nennt sich dann Praktikum. Aber beim Wohnen? Fehlanzeige! Die Lebensqualität würde rasant steigen. Mit Sicherheit ließen sich mit einem Probewohnen spätere Differenzen mit dem Vermieter kleinhalten. Wie sind die Nachbarn? Komme ich mit dem Aufzug klar? Werden die Kinder täglich oder doch nur einmal in der Woche geschlagen? Das will ich doch vorher wissen. Zu den Antworten gelange ich jedoch erst, wenn ich den Vertrag unterschrieben und meine Möbel fleißig verteilt habe.

Geradezu menschenunwürdig finde ich, dass man sein Grab ebenfalls nicht testen kann. Schließlich soll man an der Stelle den Rest seines Lebens verbringen. Keine Ahnung, weshalb mir das gerade zu Ostern einfällt. Trotzdem: Mit meinem Grab, weiß ich nicht, auf was ich mich einlasse. Am Ende finde ich mich in einer viel zu engen Urnenreihe wieder. Und neben mir liegt eine völlig fremde Frau. Eine, die ständig schnarcht. Oder Selbstgespräche führt. Oder schnarcht und gleichzeitig redet. Wenn ich mir vorstelle, dass ich zur letzten Ruhe gebettet bin und nicht zur Ruhe komme, werde ich regelrecht unruhig. Den Platz kann ich ja nicht so leicht wechseln, geschweige denn aufgeben.

Wenn mir mein feiernder Nachbar den Schlaf raubt, verlasse ich das Zimmer. Ich bette mich um. Ich veranlasse demnach meine eigene Umbettung.
Räume haben heute eh nicht mehr die Zuordnung wie einst. Ich kenne Leute, bei denen steht der Fernseher im Schlafzimmer. Und das Bett steht im Wohnzimmer.

Im Grab kann ich, soweit ich informiert bin, nicht einfach mein Kissen unter den Arm klemmen und mich damit in ein anderes Grab legen. Der einmal zugewiesenen Behausung bin ich zur Treue verpflichtet. Bis in den Tod. Und darüber hinaus.

Wie gesagt, es ist Ostern. Aufstehen ist möglich. Und Raumwechsel allemal.

04.04.2015



TÜR

Gestern lud das städtische Museum zum Tag der offenen Tür. Kostenlos konnte ich durch die weiten Räume flanieren und mich mit allerlei Wissenswerten dopen. Für die nächsten hundert Geburtstags- und Weihnachtsfeiern wird der Gesprächsstoff reichen, den ich aufsammelte. Ich muss nur die passende Stelle bei einer der unvermeidlichen Feiern abpassen und kann dann meinen geistreichen Senf an den Mann oder besser an die Frau bringen.

Nach einem halben Tag in dem gut beheizten Haus überkam mich ein drängendes Bedürfnis. Kaum hatte ich die Tür verriegelt, mich erschöpft auf eine kühle Klobrille gesetzt und begonnen über das Wort Stuhlgang nachzudenken, klopfte es.

„Aufmachen!“, polterte eine Stimme, die zu dunkel klang, um von einem sonnigen Gemüt zu stammen.
„He Kumpel“, sagte ich, „bin noch nicht fertig.“
„Fertig oder nicht fertig. Aufmachen!“

Wenn ich eins hasse, dann unter Zeitdruck zu drücken.

„Scheiße“, protestierte ich also ziemlich niveaulos. „Ich male Ihnen schon keine Nackedeis an die Wand.“
„Zum letzten Mal.“ Die Stimme des Mannes krächzte, als hätte man sie lange nicht geölt. „Aufmachen!“
„Aber warum? Warum?“
„Warum fragen Sie?“ Die Stimme, die den kleinen Hänger überwunden hatte, brummte wieder wie ein altes E-Werk. „Wir haben Tag der offenen Tür.“

30.03.2015



GRUSSWORT


Dass der kleine Herr Hoang die weißhaarige Frau Fischer stets mit den Worten „Du Gurke“ begrüßt, hat weniger damit zu tun, dass die ältere Dame von dem Verkäufer für eine ausländerfeindliche Querulantin gehalten wird, die gerade montags bei einem Abendspaziergang mit dünner Stimme das Deutschlandlied singt, sondern weil Frau Fischer in dem überschaubaren Obst- und Gemüsegeschäft neben diversen Grundnahrungsmitteln wie Kartoffeln, Äpfel und Bier auch gern einen Beutel knackfrischer Gewürzgurken erwirbt.

Längst haben sich die beiden, Herr Hoang wie Frau Fischer, daran gewöhnt, dass „Du Gurke“ bei den anderen Kunden für eine schwer zu leugnende Irritation sorgt. Den Kopf leicht eingezogen verfolgen diese den Ausgang des Wortwechsels mit gepflegtem Desinteresse. Die einen beugen sich über eine Kiste formvollendeter Birnen, während andere in meditativer Versenkung die protokollierten Zutaten einer verbeulten Fischkonserve studieren.

Dabei ist es gleich, ja völlig egal, ob nun Frau Fischer ein zustimmendes „Ja, gern!“ schmettert, oder den fragenden Verkäufer mit einem ablehnenden „Heute nicht!“ abschüttelt. Die Kunden haben es nach dem Verebben des codierten Dialogs auffallend eilig, um den, nach ihrem Dafürhalten mit Spannung geladenen Laden zu verlassen.

24.03.2015



BESTELLUNG

Als Freund von Belegen und Nachweisen druckt sich Klaus Otto stets die Namen der Bücher, die er sich von seiner Bücherei leiht, auf einen Bon aus. In der Regel läuft dies unaufgeregt und lautlos ab. Seine letzte Ausleihaktion wird Klaus Otto, den Freunde liebevoll KO nennen, wohl sicher so schnell nicht vergessen. Bereits als er den kleinen Zettel in der Hand hielt, konnte KO, trotz der magersüchtigen Buchstaben, erkennen, dass ihm das Haus neben den drei Buchtiteln auch eine Summe von 1,46 Euro bescheinigte. Der Grund der finanziellen Belastung sei, erläuterte ihm eine Bibliothekarin, die Reservierung einer bestellten DVD.

„Wie bitte?“, fragte KO entrüstet, obwohl er die Frau ganz gut verstand. „Ich habe in meinem Leben noch nie eine DVD bestellt.“
„Nicht?“ Die Frau sah KO an, als hätte er ihr etwas sehr Intimes anvertraut.
„Nein“, versicherte er. „Ich habe nicht mal einen DVD-Player.“
„Aber dann“, sagte die Frau, während ihr Blick auf einem der Bildschirme Halt suchte. „Dann frage ich mich schon, wie Ihre Bestellung bei uns eingehen und bearbeitet werden konnte. Sie sind doch Herr Klaus Otto?“

Die Frau glich die Daten mit der Bestellung ab. Name, Geburtstag, Größe, Gewicht, Religion, Kundennummer des Hauses. „Das sind Sie!“, sagte die Frau und nickte zustimmend.
KO war hin und hergerissen, ob er sich über diese Feststellung freuen sollte.

„Wenn Sie der sind, der laut der Daten die DVD bestellt hat, weshalb wollen Sie die dann nicht?“
„Weil ich keine DVD bestellt habe. Und weil ich keinen Player besitze, um mir eine DVD anzusehen.“
„Die können Sie gut und gerne auch am Computer anschauen“, belehrte ihn die Frau. „Oder wollen Sie mir weismachen, dass Sie keinen Computer haben?“
„Nein. Ich meine ja, natürlich habe ich einen PC.“
„Gut, dann storniere ich Ihnen eben die DVD. Obwohl der Film wirklich gut ist. So eine romantische Geschichte. Ich muss jedes Mal heulen, wenn ich den Film ansehe.“
„Bitte stornieren Sie“, unterbrach KO die Kurzrezession auf Blogniveau.
„Die Summe bleibt gleich. Bestellung oder Storno, beides macht 1,46 Euro.“

„Obwohl ich“, hauchte KO und gab sich geschlagen. Missmutig griff er nach seiner Geldbörse, als er im Hintergrund seinen Namen hörte. Ein Mann mit einem albernen Teewärmer auf dem Kopf fragte nach ihm. In der Hoffnung, nun möge sich alles aufklären, gab sich KO dem Mann zu erkennen. „Schön“, sagte der. „Ihr Taxi ist da.“
„Mein Taxi?“
„Wenn Sie Herr Klaus Otto sind“, meinte der Mann trocken, „dann steht jetzt Ihr Taxi vor der Tür.“
„Na, wenn das so ist“, entgegnete KO und folgte dem Fahrer. Klaus Otto hatte zwar kein Taxi bestellt, war aber froh, endlich nach Hause zu kommen.

20.03.2015



AHOI


Eine ältere Frau streift mit einem kleinen Jungen durch eine Kirche.
„Und das ist das Kirchenschiff“, erklärt die Frau dem vielleicht Fünfjährigen.
„Cool“, sagt der Kleine. „Dann ist das da vorn der Kapitän?!“

18.03.2015



ÜBUNG


Ich reckte und streckte mich. Hochkonzentriert. Dennoch erspähte ich an der Decke winzige Lampen. Doch die Lampen gaben kein Licht. Auch sahen sie eher wie kleine Kameras aus. Lichtkameras. Es wurde wirklich Zeit, dass ich etwas für meinen Körper tat. Nicht nur, dass ich kaum auf einem Bein stehen konnte. Jetzt bekam ich auch noch Wahnvorstellungen.

Vor einem halben Jahr verschrieb mir der Arzt fünfzig Stunden Reha-Sport. Vor einem Monat meldete ich mich an. Hektische Bewegungen sind Gift, wenn man täglich acht Stunden im Büro hockt. Und der Weg zum Kaffeeautomaten zum Härtetest wird. Aus diesem Grund ging ich die Sache ruhig an.

Gestern absolvierte ich die erste Stunde. Inmitten einer Gruppe grauhaariger Schmerbauchträger arbeitete ich mal mit einem Ball, mal mit einem Stock und dann auf einer Liegematte. Ich konnte nicht meckern. Es war alles kindgerecht. Trotzdem kam ich schnell außer Puste. In meinen Gliedern steckten tausend Nadeln. Spätestens am nächsten Tag würde ich mit einem Muskelkater im Arm aufwachen. Wie sollte ich den nennen? Und überhaupt, gibt sich ein Muskelkater mit Whiskas zufrieden?

Die anderen Streck- und Reckfreunde rührte das alles wenig. Stoisch führten sie die Übungen aus, die der Turnvater vorgab. Man kannte sich. Und man kannte die Exerzitien. Ich war neu. Der Frischling war ich. Schon sah ich mich, nach den Verrenkungen allen einen ausgeben. Heißen Holundertee. Mit ohne Zucker.

Nach knapp sechzig Minuten beendete der Coach die Runde. Ich schwitzte und machte es mir auf der Gymnastikmatte bequem. Um kurz durchzuatmen schloss ich die Augen. Dann wollte ich mich umdrehen und schlafen.

„Bis nächste Woche“, hörte ich den Sportsmann rufen. In meinen Ohren klang das wie eine Drohung. „Und denken Sie daran“, fügte er hinzu, „am Eingang können Sie wieder die besten Schnappschüsse von heute erwerben.“

14.03.2015
 



UNVERSTANDEN

Im Supermarkt. Am Obststand ein junger Mann. Seine Kopfhörer erinnern an eine Krone. Ein Apfelsinennetz nach dem anderen hebt der Mann hoch. Prüft ausgiebig den Inhalt. Und wirft die Netze zur Seite.

„Schmeißen Sie Nahrungsmittel immer durch die Gegend?“, brummt eine ältere Frau den Werfer an.

Unbeirrt sucht der junge Mann weiter. Und schleudert pralle Netze zur Seite.

„Junger Mann!“ Die Gesichtsfarbe der Frau rötet sich. „Ich habe Sie was gefragt.“

„Der versteht Sie nicht“, schalte ich mich ein und denke dabei an die Kopfhörer.
„Ach“, stöhnt die Frau erleichtert. „Ausländer ist der auch noch?!“ 

10.03.2015
 



FUSSEL


An der Haltestelle kam eine junge Frau auf mich zu. Groß, blond und mit einem Lächeln, dass die Erderwärmung erklärte.

Ob sie eine Fussel auf dem Rücken hätte, fragte mich die Frau und drehte sich elfenhaft um. Ich musterte sie ausgiebig. Und verneinte.
„Und vorn?“, fragte sie, als sie sich wieder zu mir gedreht hatte.
Hastig schüttelte ich den Kopf. Unmöglich, sie ebenso ausgiebig zu taxieren, wie kurz zuvor. „Nein“, sagte ich. „Alles top.“
Was natürlich untertrieben war. Denn was ich sah, schrie nach Bestnoten.
„Wirklich nicht?“, drängte die Frau.
„Nein.“

Die schmalen Finger der Frau huschten über die Tastatur des Smartphone und tippten im Eiltempo ein paar Bewertungen. Dabei klimperte die Frau mit den Augenlidern.
So smart wie möglich klimperte ich zurück. Wirklich, ich bemühte mich redlich, ihren Klimpertakt zu finden. Es gelang mir nicht. Taktlos hinkte ich hinterher.

Die fusselfreie Frau schaute auf. „Fick dich!“, zischte sie beherzt und ging weiter.

05.03.2015

 



GEKAUFT


„Das sind sechs Fußballspiele“, hörte ich letzten Samstag am Nachbartisch einen Mann ins Telefon sprechen. „Jedes Spiel kostet zwischen fünf und zehn Euro. Da ist nicht viel zum Verhandeln. Entweder du gehst mit, akzeptierst den Preis. Oder du bist draußen.“

Ich lehnte mich zurück. Sechs Spiele, das kam hin. So viele Partien hatte die heutige Bundesliga. Und das dort gemauschelt wird, darauf hätte ich wetten können. Aber zu solchen Preisen? Ich wurde unsicher. Fünf bis zehn Euro? Unsinn! Böses Foul. Ganz böses Foul. Der Mann spricht verschlüsselt. Klar! Man soll ihn ja nicht verstehen, wenn man ihm schon zuhört. Hier ging es um ganz andere Summen. Fünf- bis zehntausend. Wenn das reicht.

„Also was ist?“ Der Mann am Nachbartisch wurde ungeduldig. „Teilen wir uns rein? Oder hast du die Hosen voll? Was? Gut, sehr gut. Ich schnapp mir die Spiele. Und in gut einer Stunde bin ich bei dir. Wirf schon mal die Playstation an.“

01.03.2015



GLÜCKWUNSCH

Er hätte heute einer alten Freundin zum Geburtstag gratuliert, sagte Weinstein, der dafür bekannt ist, stets sämtliche Geburtstage von Freunden und noch so fernen Feinden parat zu haben.

„Wenn es dich nicht gäbe“, sagte ich, „würden bestimmt manche Leute ihren eigenen Geburtstag vergessen.“

„Sie wusste“, erwiderte Weinstein trocken, „dass ich mich melden würde. Sie hatte bereits auf meinen Anruf gewartet. Schließlich kennen wir uns schon ewig.“

Weinstein sah an mir vorbei, als suche er nach dem Textbuch unserer Unterhaltung. „Vor zehn Jahren erst“, brummte er verträumt, „ja, erst vor zehn Jahren hat sie mir das letzte Mal zum Geburtstag gratuliert.“ 

25.02.2015

 


 TRÖDEL


Auf dem Trödelmarkt. Ein Kunde nimmt zwei Teegläser von einem Tisch und erkundigt sich beim Verkäufer nach dem Preis.
„Zehn Euro für jedes Glas“, pariert der Verkäufer.
„Zehn?“ Skeptisch betrachtet der Kunde die Gläser. „Das ist viel.“
„Die sind aus der transsibirischen Eisenbahn“, erklärt der Verkäufer vollmundig.
„Wenn das so ist“, meint der Kunde und stellt die Gläser zurück. „Dann bin ich der Kaiser von China.“
Der Verkäufer braucht einen Moment. Schließlich sagt er: „Wenn das so ist. Dann gibt’s die Gläser für `nen Fünfer.“

21.02.2015



MEHR


Drei Straßen weiter hat letztes Jahr ein Laden für gebrauchte Schallplatten und CDs aufgemacht. Inhaberin ist eine junge Frau. Hin und wieder kehre ich bei ihr ein und krame in den Regalen. Bevor sie ihr Geschäft eröffnete, erzählte die junge Frau heute, versuchte sie sich im elterlichen Betrieb. „Damals stand ich auch an einer Theke“, erklärte sie. „Ich habe Rindergulasch und Teewurst verkauft. Meine Eltern haben eine Fleischerei.“

Ich nickte zustimmend. Was sollte ein Vegetarier dazu sagen?

„Nun verkaufe ich Musik“, stellte die junge Ladenbesitzerin fest und sah sich um. Vielleicht konnte sie es selbst noch nicht fassen. „Das ist echt mein Ding“, schwärmte sie. „Den ganzen Tag höre ich Musik. Und nebenbei komme ich mit Leuten ins Gespräch, die auch gern Musik hören.“

Ob ihr denn die Fleischerei nicht ab und an fehlen würde, wollte ich wissen.
Die Ladeninhaberin schüttelte den Kopf. „Nee!“, sagte sie entschieden. „Das ist vorbei.“ Die junge Frau verstaute meine silberne Entdeckung in eine Tüte. Und als sie den Preis in die Kasse eingab, fragte sie beiläufig: „Darf‘s noch `ne Scheibe mehr sein?“

15.02.2015



RUND


„Ist das eine Zuckermelone“, fragt die ältere Frau unsicher. „Oder eine Honigmelone?“
„Weder noch“, antwortet eine Verkäuferin. „Das ist ein Ball. Sie befinden sich in einem Sportgeschäft.“
„Wenn das so ist“, sagt die ältere Frau, „dann nehme ich doch lieber eine Packung Aufbaunahrung.“
„Welche Geschmacksrichtung hätten Sie denn gern?“, erkundigt sich die Verkäuferin. „Vanille oder Erdbeere?“
„Melone“, erwidert die ältere Dame. „Melone, gute Frau.“

11.02.2015
 



UNGEPFLEGT


Hin und wieder lese ich in der Zeitung, dass Eltern ihre Kinder vernachlässigen. Jetzt musste ich lesen, dass ich meine Eltern vernachlässige. Obwohl diese seit vielen Jahren tot sind, warf man mir vor, dass ich mich nicht um sie kümmere. Das Grab sei in einem vernachlässigten, ja ungepflegten Zustand, schrieb mir die Verwaltung. Der knapp zweiseitige Brief traf pünktlich zum Weihnachtsfest ein. Wie umsichtig! Schließlich ist Weihnachten das Fest des Friedens und der Familie. Hätte ich fast vergessen.

Also traf ich mich vor ein paar Tagen mit einer Frau, die gegen ein kleines Salär fremde Gräber pflegt. Nachdem die Frau das Grab sorgfältig geprüft und sogar zwei, drei Fotos gemacht hatte, räusperte sie bedeutungsvoll. „Ich mach Ihnen das wieder schön“, versprach sie. „Wir wollen doch nicht, dass man Sie als Rabenkind beschimpft.“

09.02.2015



ZEUGNIS
Oma Herta, von allen liebevoll das Ömchen genannt, studiert das Zeugnis von Enkel Leon. „Puh“, stöhnt das Ömchen. „Das sah schon mal besser aus.“
„Das hat der Papa auch gesagt“, antwortet Leon.
Ömchen nickt, sie fühlt sich bestätigt. „Siehst du!“
„Ja“, triumphiert Leon. „Das Ömchen, hat Papa gesagt, das sah schon mal besser aus.“

07.02.2015



MANTEL


Bis vor kurzem waren Sprichworte wie ‚aus der Haut fahren‘ oder ‚ich fühle mich nicht wohl in meiner Haut‘ für mich leeres Gerede. Metaphern eben, die das Fremdeln mit der eigenen Identität bemänteln sollten.

Seit gestern ist das anders. Seit gestern sehe ich diese geflügelten Worte in einem anderen Licht.

Ich hatte meinen Mantel vor einer wichtigen Beratung an einen der Kleiderständer gehangen. Die Sitzung zog sich, gefühlte hundert Stunden dauerte sie. Mehrfach wurde ich wegen einem Projekt kritisiert. Mächtig beleidigt ging ich auf Angriff und bellte munter drauf los. Danach schnappte ich ziemlich aufgewühlt meinen Mantel und verließ das Gebäude. Auf dem Weg zum Auto fuhr ich in die rechte Tasche. Doch da war kein Autoschlüssel. Auch in der linken Tasche fand ich ihn nicht. Ich blieb stehen und fluchte. Doch all das berührte den Schlüssel wenig, er blieb verschollen. Also atmete ich tief durch und suchte ich in den verbleibenden Taschen. Ich zog das Ladegerät für ein Handy hervor, ein eingeschweißtes Kondom und eine eingerissene Eintrittskarte für ein Handballspiel. Alles wichtige Dinge. Ohne Zweifel. Trotzdem waren es Dinge, zu denen ich nur mit Mühe eine Verbindung herstellen konnte.

Der Mantel, den ich trug, glich meinem bis aufs graue Haar, was auf dem Kragen lungerte. Glich, denn es war weder mein Mantel, noch war es mein Haar. Ich hatte mich nicht nur im Ton, ich hatte mich auch am Kleiderständer vergriffen.

01.02.2015



DISKURS


Fünf, sechs Männer steigen in die Bahn. Die schweren Stiefel, die die Männer tragen, geben beim Laufen dumpfe Geräusche von sich. Als würde jemand von unten gegen den Boden der Bahn schlagen. Einer der Männer hält einen Teddybären im Arm. Ein anderer Mann drückt ein langes Lineal ans rechte Ohr und flüstert ständig: „Hallo!“

Ein Mann mit Pferdeschwanz und Sandalen an den Füßen führt die kleine Gruppe an. „Also Jungs“, ruft er in die Runde, „wenn der Kontrolleur kommt: Ich habe die Fahrkarte. Habt ihr das verstanden?“

Die Männer nicken zufrieden. Zwei der Männer setzen sich.
„Ich brauche keinen Schlüssel“, sagt der eine.
„Genau!“, pflichtet ihm der andere bei, wobei dieser die letzten Buchstaben genüsslich in die Länge zieht.
„Dabei hat der Gunter das gesagt. Dass ich heute den Schlüssel brauche.“
„Genau! Genau!“
„Aber heute brauche ich den Schlüssel nicht.“
„Genau!“
„Beim Anziehen hat der Gunter gepupst. Immer pupst der Gunter, wenn er sich anzieht.“
„Genau!“
„Wenn wir da sind, gebe ich dem Gunter den Schlüssel zurück.“
Der Genaumann schaut seinen Freund und schweigt.
Dieser erwidert den Blick.
Beide schweigen einen philosophischen Augenblick.
Dann schüttelt Genaumann den Kopf und sagt: „Genau!“

30.01.2015



TAFEL


Die Verwunderung war groß, als sich die Lehrer der Petri-Schule bei ihren Kollegen der Partnerschule einfanden. In einem der Klassenzimmer stand eine gute alte Tafel.
Wie lange war das her? Die älteren Kollegen bekamen glasige Augen. Nach dem Gebrauch einer solchen Tafel musste man sofort duschen. Und die Kleidung brachte man am besten gleich nach dem Unterricht in die Reinigung.

Heute schreibt man auf Whiteboards. Wie das schon klingt. Whiteboard wirken nicht nur kalt. Die sind auch kalt. Bei jeder Berührung der emaillierten Schreibfläche wird man gnadenlos in den letzten Winter gebeamt. Aber gut, an einen Winter können sich auch nur die älteren Dozenten entsinnen.

Lediglich die Stifte, mit denen man auf den heutigen Tafeln schreibt, machen Sinn. Dies wissen selbst die jungen Lehrer. Nach einem kräftigen Zug am Filzstummel lässt sich jede Doppelstunde in der Klasse 8 überstehen.

22.01.2015


 
IRRTUM

Mein Nachbar heißt Mehmet. Im Sommer, wenn jeder auf seinem Balkon sitzt, kommen wir häufig ins Gespräch. Jetzt sitzen wir nicht draußen. Jeder raucht im Eiltempo seine Zigarette, wünscht dem anderen einen guten Tag und verschwindet rasch wieder ins Warme.
Mehmets Balkon ist noch immer mit funkelnden Weihnachtslichtern geschmückt. Irgendwie muss der Mann die Pegida-Demos falsch verstanden haben.

17.01.2015



BRAUCH

Wie jedes Jahr waren die Sternsinger auch in unserem Haus. Die Kinder gingen reihum und sammelten für einen guten Zweck. Die Kostüme waren einwandfrei. Und gesungen haben die Kinder ganz toll. War wirklich eine feine Sache. Nur was die Sternsinger diesmal über die Haustür schrieben, kommt mir doch etwas seltsam vor.

13.01.2015 


VERWIRRT

Manchmal fühlt sich Herr Oehme überfordert. Die Welt wird immer unübersichtlicher. Eine Krise löst die andere ab.

Auch die Schilder, die täglich um seine Aufmerksamkeit als Verkehrsteilnehmer buhlen, werden immer komplexer. Als genügten Hinweise auf eine Allgemeine Gefahrenquelle, einer Sackgasse und auf Straßenschäden nicht.

Das vierte Schild verwirrt vollends. Herr Oehme kann sich nicht daran erinnern, dass ihn die Fahrschule jemals mit diesem Schild konfrontierte. Dabei hat er seine Prüfung erst am 28. Mai 1978 abgelegt. Gibt es links etwas fürs Herz? Hat ein Kardiologe eine neue Praxis aufgemacht? Oder bieten an der ausgewiesenen Stelle Frauen ihre Dienste an? Ist es das? Um welche Dienste handelt es sich? Reichen die Damen einem Schmalzbrote und heißen Tee?  

Fragen und nichts als Fragen, stellt Herr Oehme fest. Wenn die Schilder früher Ordnung in den Verkehr brachten, so erhöhen sie heute das Chaos. Manchmal fühlt sich Herr Oehme einfach überfordert.

10.01.2015


 WINTERURLAUB

Als Herr Friedrich am Feriendomizil antraf, klatschte seine Frau in die Hände. „Ist das schön!“, rief sie begeistert.

Herr Friedrich, der eher selten zu Gefühlsausbrüchen neigte, wunderte sich ein wenig. Irgendetwas stimmte nicht. Er überlegte. Dann zog er den farbigen Prospekt aus der Tasche und las laut vor: „Gleich neben unserem geräumigen Bungalow, der sich in einer ausgesprochen ruhigen Lage befindet, neben dem kleinen Häuschen haben wir für alle Kinder eine idyllische Eisbahn eingerichtet. Während sich die Eltern in der warmen Stube einen entspannten Wintertag gönnen, können die Kleinen draußen schlittern und toben.“ 

Die Lage war ruhig, urteilte Herr Friedrich. Das war es nicht. Auch das Quartier machte auf den ersten Blick einen behaglichen Eindruck. Fragend wanderte sein Blick wieder in den Katalog. „Ich hab’s!“, stieß Herr Friedrich mürrisch hervor. „Die Eisbahn! Die Eisbahn fehlt!“

„Aber Heinz“, schaltete sich seine Frau ein. „Was regst du dich auf? Es ist so schön hier. Und außerdem: Wir haben doch gar keine Kinder.“

„Na und“, wetterte Herr Friedrich und rief das Reisebüro an. „Die haben eine Eisbahn versprochen. Und was ist? Keine da. Nicht mit mir!“

03.01.2015  


 
SICHER

Das Weihnachtsfest feierte ich friedlich in der Familie. Die Enkel freuten sich über jedes Geschenk. Obwohl sie schon alles haben. Danach rutschte ich mit Freunden in das neue Jahr. Bis gegen halb zwei saßen wir zusammen. Blieb alles ganz manierlich. Selbst das Bleigießen ging ohne jede Peinlichkeit über die Bühne. Am Neujahrstag musste ich mal raus. Kopf und Körper sollten ein bisschen durchlüften. Ich spaziere also vor mich hin. Und wie ich so lüfte, komme ich an einem Stromkasten vorbei. Dort stellt sich mir ungefragt eine Frage in den Weg. Eine Frage, die alles in Frage stellte.

„Fühlen Sie sich sicher?“

Das Mädchen, von der die Frage kam, war klein und jung. Was sie über den Bauch hielt war weniger lieblich. „Fühlen Sie sich sicher?“, wiederholte das Mädchen und zog am Schulterriemen der Waffe.

„Dumme Frage“, antwortete ich. „Natürlich fühle ich mich sicher.“

Das Mädchen lächelte kalt. „Was war mit den Plätzchen“, fragte sie. „Schmeckten die dieses Jahr nicht etwas zu bitter? Waren das wirklich nur die Mandeln? Und fehlt nicht seit dem zweiten Weihnachtsfeiertag das scharfe Küchenmesser? Das schöne Messer! Schon beim Anblick der Klinge teilt sich jedes Steak in zwei Hälften.“

Ich nickte. Das Mädchen war bestens informiert.

„Und an Silvester?“, fuhr sie fort. „Weshalb wollten Ihre Freunde partout keine Fotos machen? Von wegen schlecht frisiert!“

Leicht verunsichert ging ich heim.

01.01.2015

 



WUNSCH


„Was haben wir denn heute gegessen?“, fragte die Frau skeptisch. Sie kniete neben ihrem Hund und klaubte mit einer Plastiktüte dessen Hinterlassenschaft aus dem Gras. „Das ist ja schwarz wie Kohle“, bemerkte die Frau. „Früher hätte ich damit heizen können. Aber heute? Was soll Frauchen mit Kohle?“

Die Frau überlegte. Der Hund schwieg.

„Kannst ruhig mal ruhig Geld scheißen“, meinte die Frau, als sie die Tüte in den Papierkorb warf. „Muss ja kein Gold sein. Geld reicht. Hast du gehört?“

29.12.2014

 



AUSWEIS


Der Personalausweis lag neben einer Mülltonne, wenige Meter von der Haustür entfernt. Ich hob den Ausweis auf, las den Namen und freute mich. Die Plastikkarte gehörte der jungen Frau, die seit zwei Wochen eine Etage unter mir wohnte. Endlich hatte ich einen Grund, mit der jungen Frau ins Gespräch zu kommen. Wie zur Vorfreude trug ich den Ausweis einen ganzen Tag mit mir herum. Und probte die passende Eröffnung. „Guten Tag, ich möchte zu Frau Schröder.“ Das war Unsinn, schließlich wohnte die Frau allein. Wer also als Frau Schröder würde mir die Tür öffnen. Der Weihnachtsmann?
„Vermissen Sie etwas?“ Auch nicht besser.
„Ich glaube, ich habe da was, was …“ Bla bla.

Trotzdem klingelte ich gestern Abend bei meiner Nachbarin. Wie sie dann in der Tür stand, sich eine blonde Haarsträhne aus der Stirn schob, wurde mir ganz heiß. „Sind Sie Frau Schröder?“, fragte ich und hoffte, dass mein Deo die plötzliche Hitzewallung ignorierte.
Was meiner Frage folgte, war nicht unbedingt, was ich erwartet hatte. Was folgte, katapultierte mich Lichtjahre von einem romantischen Abend fort.

„Wer will das wissen?“, schnaufte die Frau angestrengt. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, hörte ich auf zu schwitzen. Ich spürte, wie die ohnehin kalte Luft um Flur noch eisiger wurde.
„Ich“, hauchte ich gegen den drohenden Kältetod an.
„Geht’s vielleicht etwas genauer? Wenn es wegen der Musik ist. Ich bin zwar blond, aber mit Helene Fischer kannst du mich jagen. Ich brauche Rums. Oder schickt dich mein Ex? Wie oft denn noch?! Der kriegt schon seinen Fernseher zurück. Keine Panik! Also?“

Leicht verstört hielt ich Frau Schröder ihren Ausweis hin. „Ihr Ausweis“, sagte ich sicherheitshalber, falls die Frau mein Mitbringsel als Waffe interpretierte.

„Und mein Portemonnaie?“ Die Frau stierte mich an, als hätte sich auf meiner Stirn ein drittes Auge aufgetan. „He Alter“ rief sie. „Und wo sind meine ganzen Papiere? Von dem Geld ganz zu schweigen. Sag nicht, du hättest nur den Ausweis gefunden. Das kannst du stecken lassen. Oder“, sie nahm ihr Handy aus der Tasche und tippte eine recht kurze Nummer. „Oder du erzählst dein Märchen am besten gleich den Bullen.“

22.12.2014


 
WEITSICHT

Seit gut einer Woche habe ich eine neue Brille. Wenn ich den Kopf schräg halte, erkenne ich das Grübchen im Gesicht der Verkäuferin. Und mit Hilfe einer weiteren Verrenkung gelingt es mir das Kleingeld zielgenau aus dem Portmaine zu fischen. Manchmal passiert es, dass das Grübchen wie ein Centstück aussieht. Und das Centstück wie ein Grübchen.
„Geben Sie Ihrer neuen Brille etwas Zeit“, empfahl mir der Optiker. Vielleicht hilft das. Die nächsten Tage werde ich die Brille jedenfalls im Etui lassen.

19.12.2014

 


 

Klimaschützer sind entsetzt. Nur eine Woche nach der Klimakonferenz in Lima kündigen die USA und Cuba das Ende ihrer Eiszeit an.

18.12.2014


 

Eberhard Feik, einstiger „Tatort“-Partner von Götz George, hat für die Stasi gearbeitet. Die ARD reagierte schnell auf die Nachricht. Alle Schimanski-Filme werden noch einmal gedreht.

17.12.2014

 


 
FAHRT


Mit dem Gong erschien die Nummer 1179 auf der Anzeigentafel. 1179 das war ich. Zumindest seit einer halben Stunde. Mit dem kleinen Nummernzettel in der Hand stürmte ich zum Schalter. „Na, wo soll‘s denn hingehen?“, fragte ich die Frau. Nach der langen Wartezeit wollte ich die Dame etwas verunsichern.

„Entschuldigung“, antworte die Frau müde, „ich will nicht verreisen.“

Das Kostüm, was sie trug, muss ihr als Lehrling gepasst haben. Aber das war Jahre her. Inzwischen hatte die Frau ausgelernt und verkaufte auf dem Bahnhof Fahrkarten. Doch das Kostüm hatte das alles verschlafen.

„Aber hören Sie“, machte ich auf verwundert. „Dabei sitzen Sie an der Quelle. Ständig können Sie sich neue Fahrkarten ausdrucken. Ohne ewig anzustehen können Sie sich ein Ticket nach dem anderen genehmigen. Nach Warnemünde, nach Wilhelmshaven oder gleich nach Wartenberg.“

„Noch was?!“, brummte die Frau und schob den Bleistift auf ihrem Tisch so, dass die Spitze angriffslustig auf mich zeigte. „Ich hasse Zugfahren. Wollten Sie das hören?“

„Das glaube ich jetzt nicht!“, stöhnte ich entgeistert auf. „Sie hassen Bahnfahren?“

„Genau“, sagte die Frau, „und wissen Sie warum? Weil man das Abteil mit solchen Idioten wie Ihnen teilen muss.“

Die Frau drückte einen Knopf. Der Gong ertönte und mit Sicherheit zeigte die Tafel nun die nächste Nummer.
1179 war Geschichte. Ich war raus.
Die Frau sah gezielt an mir vor mir vorbei und begrüßte 1180 freundlich: „Na, wo soll’s denn hingehen?“

10.12.2014

 



GEWOHNHEITEN


„Wissen Sie, weshalb ich in jedem Lokal die Toilette benutze?“

Der Mann stand neben mir an einem Pissoir. Ich schwieg. Obwohl ich inzwischen in einem Alter bin, wo jede Anmache mein Selbstwertgefühl für mehrere Monate stärkt, sieht das etwas anders aus, wenn mich ein Mann anbaggert. Doch zu meinem Erstaunen widmete der Mann mich keines Blicks, auch meinen Hosenschlitz ignorierte er. Der Fremde studierte die blassen Kacheln, als weissagten diese ihm die Zukunft.

„Weil ich mir hier etwas leisten kann“, nahm er Mann den Faden wieder auf, „was ich mir zu Hause nie erlauben würde. Vor meiner Hochzeit hätte ich jeden ausgelacht, der behauptet: Eine Frau beeinflusst die Gewohnheiten eines Mannes wie eine schwere Krankheit.“
Ich gab meiner Blase den Befehl, endlich fertig zu werden. Das Gerede war nicht zum Aushalten. Doch das Glas Bier, was ich getrunken hatte, muss ein ziemlich großes gewesen sein. Aus einem halben Liter war ein Liter geworden. Ich kam und kam nicht zum Ende.

„Aber hier“, sagte der Mann, „hier kann ich endlich mal wieder im Stehen pinkeln.“

05.12.2014
 


 
TERMIN


Gruber war wütend. Erst war er in Hundescheiße getreten. Dann ließ der Termin auf sich warten. Seit Wochen traf sich Gruber mit Interessenten. Erdgeschosswohnungen gehen schlecht. Aber die, die Gruber vermitteln wollte, ging noch schlechter.

„Assigegend“, fluchte Gruber und zog seine rechte Schuhsohle über die Bordsteinkante. „Und überall diese Köter. Das Viehzeug vermehrt sich schneller als die Ratten im Keller. Kein Wunder, dass kein Mensch hier freiwillig herzieht.“

Gruber wechselte die Straßenseite, rieb seinen Schuh über einen Fetzen Wiese. „Wie ich das hasse!“

Da hörte er seinen Namen. Auf der anderen Straßenseite stand ein Mann und winkte ihm zu. Gruber winkte zurück. „Ah!“, rief er. Mit großen Schritten ging er auf den Mann zu, gab ihm die Hand. „Dann sind Sie der Herr Bannert? Wunderbar.“
„Entschuldigung“, sagte der Interessent. „Ich komme zu spät.“
Gruber wehrte ab. „Ich bitte Sie!“, sagte er. „Kein Problem.“
„Doch, doch. Das ist sonst nicht meine Art. Aber die Straßenbahn.“
„Ja, die Bahn“, bestätigte Gruber und überlegte, wann er das letzte Mal in einer Bahn saß.

Der Interessent sah sich skeptisch um. „Was das Netz über die Gegend schreibt“, sagte er, „klingt ja nicht gerade einladend. Besser man macht einen Bogen drum.“
„Lieber Herr Bannert!“, stieß Gruber entsetzt hervor. „Glauben Sie bloß nicht alles, was diese ganzen Foren ausspucken. Wenn mich meine Frau nicht dazu überredet hätte, das Haus Ihrer Tante auszubauen, ich wäre -. Soll ich Ihnen was gestehen? Ich wäre glatt hier hergezogen.“
„Echt?“, sagte der Interessent ungläubig.
„Eins muss ich Ihnen gestehen“, sagte Gruber, um erst gar keinen Zweifel bei dem Mann aufkommen zu lassen. „Die Wohnung, die wir uns ansehen werden, ist, wie soll ich sagen.“ Gruber hielt inne, kratzte sich das Kinn. „Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Ich habe mindestens drei Mieter, die sofort in die Wohnung einziehen würden. Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein. Wenn die Leute mich hier mit Ihnen sehen, nicht auszudenken. Aber. Da meine Mutter eine geborene Bauer war, habe ich mir gesagt: Gib‘ dem guten Herrn Bauer eine Chance. Also. Am besten, Sie entscheiden sich gleich. Sonst ist die Wohnung weg. Noch heute Abend.“

Der Interessent nickte verlegen. „Bannert“, sagt er, „Bannert.“

„Was?“ Gruber schaute irritiert.
„Ich heiße Bannert.“
Grube nickte. „Sag ich doch.“
„Ihre Mutter hieß Bauer.“
„Ja und?“
„Dann verstehe ich nicht -.“ Der Interessent räusperte sich vorsichtig. „Ach was soll‘s.“
„Hören Sie!“ Gruber spürte, wie seine Wangen plötzlich zu glühen begannen. „Erst lassen Sie mich den halben Nachmittag warten. Dann machen Sie sich über meine Mutter lustig.“
„Bitte“, sagte der Interessent, „so war das nicht gemeint.“
„Schnauze!“, zischte Gruber. „Und wissen Sie was? Gehen Sie nach Hause. Ja, gehen Sie nach Hause. Die Besichtigung ist beendet.“
Der Interessent lächelte und warf er einen letzten Blick auf das Haus. „Okay!“, sagte er. „Wollte mir eh keine Wohnung von einem Typen aufschwatzen lassen, der stinkt. Echt blöd, wenn man einen Palast hat, aber keine Dusche.“

01.12.2014

 


STOPP

Ein Autofahrer bremst vor dem Stoppschild ab und steigt aus seinem Wagen.
„Verdammt“, ruft der Mann einem Bauarbeiter zu. „Weshalb ist denn die Straße gesperrt?“
Darauf der Arbeiter: „Ist halt `ne Ausfallstraße.“

28.11.2014



DAUERTNICHTLANGE

Der Raum ist winzig, in dem ich sitze und warte. Der Arzt müsste gleich kommen, hatte Schwester Anke gesagt. Das Namensschild, was sie trägt, ist neu. Vielleicht hatten sich die Kollegen einen Spaß gemacht. Hatten das N mit dem K vertauscht.
Ich sitze und warte. Sitze in dem kleinen Raum. „Das geht schnell.“ Auch das hatte die Schwester versprochen. „Wegen so einer kleinen Impfung brauchen Sie nicht erst zum Herrn Doktor ins Behandlungszimmer.“

Ich sitze auf einem Stuhl, der neben einer Liege steht. Darüber ein Spiegel. Eine Armlänge entfernt ein Tisch mit einem Computer. Vielleicht zum Zeitvertreib. Mit ein paar coolen Spielen drauf. Doctor War, Teil vier. Oder Endos, die Kopie. Ich bleibe sitzen. Nichts passiert. „Der Doktor hat noch einen anderen Patienten“, sagt die Schwester, die erneut in der Tür steht. „Es geht gleich los.“

Nichts geht los. Und gleich gar nicht. Ich sitze, warte. Versuche locker zu bleiben. Ganz locker. Versuche aufrecht zu sitzen. Lege die Hände auf die Knie. Die Adern, die sich zu den Knöcheln schlängeln, schimmern blau. Blauer als sonst. Ist das etwa der Restalkohol? Ich schaue umher. Die Fußbodenfliesen sind sauber verlegt. Keine Frage. Hier und da könnten die Wände frische Farbe vertragen. Was soll‘s. Ich bin da, um geimpft zu werden. Nicht, um kluge Ratschläge zu erteilen. Die Uhr. Seit zehn, nein zwanzig Minuten sitze ich. Und warte. Oder sitze ich schon eine Stunde? Stopp! Seit gestern warte ich. Unsinn! Wenn ich ehrlich bin, sitze ich schon immer hier. Seit ich denken kann, sitze ich, warte.

Ich bin ein geduldiger Mensch. In der Regel. Wenn man es nicht überregelt. Trotzdem. Irgendwann ist Schluss. Wann wäre dieser Punkt? Wann würde ich aufstehen? Wann würde ich der Schwester sagen: „Danke Anke, es reicht.“

„Prima“, urteilt der Arzt. Seit wann steht der Mann in der Tür? Seit einer Stunde? Seit gestern? „Geduldige Menschen leben länger“, orakelt er.
„Kein Wunder“, entgegne ich, „weil die länger warten müssen.“
Stattdessen bekomme ich vor Schreck keinen Ton raus.
„Vom Nebenraum“, sagt der Arzt, die Spritze im Anschlag, „von dort können wir unsere Patienten wunderbar studieren.“ Der Mann zeigt auf den Spiegel. „Ein Blutbild sagt viel. Eine Beobachtung mehr.“

Ich nicke unschlüssig. Der Spiegel, der alte Verräter. Habe ich in den letzten Stunden in der Nase gebohrt? Habe ich mir in den Schritt gefasst? Der Spiegel weiß es.

„Können wir?“, fragt der Arzt, als hätte er den halben Tag auf mich gewartet. „Oder brauchen Sie noch einen Moment?“

25.11.2014


 
VORFREUDE


Von Heinrich Böll gibt es die herrliche Geschichte von der Tante, die keinen Tag ohne weihnachtliche Bescherung auskommt. Wenn Heinz Rühmann diese wortreiche Übertreibung dann auch noch vorträgt, kann ein Novembernachmittag von mir aus so grau sein wie der Fußweg in meiner Straße. Bölls aberwitzige Geschichte bringt mich stets in beste Sommerlaune. Brachte sollte es heißen. Denn dies hat sich leider geändert.  
Dabei wäre es übertrieben, mich einen Weihnachtshasser zu nennen. Mich dagegen einen Liebhaber von Stollenkuchen, Baumbeleuchtung und Glühwein zu bezeichnen, träfe den Punkt auch nicht ganz. Alles was mit Weihnachten zu tun hat, wirkt auf mich irgendwie klebrig. Und viel zu süß, um gesund zu sein. Nicht erst, seit ich Zucker habe. Einem Weihnachtsmarkt entfliehe ich. Einer Weihnachtsfeier stelle ich mich, wenn auch zeitlich befristet und mit wachem Blick zur Hintertür.

Logisch, dass ich die Musik, die gewöhnlich am Heiligen Abend jede noch so steife Bescherung in Watte hüllt, nur mit Mühe aushalte. Dieses Gebimmel und Glöckchengeheule erinnert mich von jeher stark an sibirische Winternächte, durch die herrenlose Schlitten umherirren. Alles das ist nicht weiter schlimm und kaum einer Bemerkung wert. Schließlich zeichnen sich die unweigerlichen Begleiterscheinungen einer Bescherung dadurch aus, dass sie nur einmal im Jahr den Kalender blockieren. Schlimm wird es, wenn sich dieses Ritual all abendlich wiederholt. Kurz nachdem die netten Verkäuferinnen bei Kaufranch oder Aldo mit Lebkuchenherzen und Spekulatiuspackungen die Regale verstopften, probt mein Nachbar mit seiner Trompete Weihnachtslieder. Sämtliche Weihnachtslieder. Von A bis Z. Von Alle Jahre bieder bis Zu Bethlehem gegoren.

Lange kam die sanfte Stimme von Rühmann gegen das markerschütternde Blasen nicht an. Bis ich heute den Lautstärkeregler auf Maximal drehte. Zwar hüpfte mein treuer Freund Tinitus schon nach der ersten Silbe von einem Ohr ins andere. Meinen Nachbar bekehrte die Phonoffensive. Reumütig lenkte er ein und verstaute sein Horn. Vorerst.

20.11.2014


 
LUST


Mit drei Pullovern über den Arm betrat ich die Umkleidekabine. Vorsorglich zog ich den Vorhang hinter mir zu. Schließlich geht es niemand etwas an, dass mein Unterhemd ziemlich atmungsaktiv ist. Es hat zwei große Löcher. Kaum hatte ich mich also vor neugierigen Blicken abgeschottet, hörte ich aus der Nachbarkabine seltsame Geräusche. Es klang, als ringe jemand mit seinem Leben. Doch dieses Keuchen und Röcheln kam von einem anderen Stern. Dieses aufgeregte Hecheln war weniger Ausdruck einer Infektion der Atemwege. In Angesicht der neuen Kleidung, war eine fast vergessene Zuneigung wieder entdeckt. Gegen das Liebesspiel, das zunehmend heftiger wurde, versuchte ich mich mit meinen neuen Kleidungsstücken anzufreunden. Das war nicht so einfach. Denn was der eine Pullover zu groß war, war der andere zu klein. Erst der dritte passte wie angegossen. ‚Den kauf‘ ich mir!‘, befahl ich meinen Spar- und Geizzellen. ‚Kein Widerspruch, den kauf‘ ich mir!‘ Freudig erregt über meinen raschen Entschluss kleidete ich mich wieder an. Wie peinlich alte Klamotten wirken, wenn man sich gerade für neue erwärmt hat. Ich sprach mir Mut zu: ‚Komm Alter, probier noch ein paar andere Sachen an. Jetzt, wo du gerade dabei bist.‘ Inmitten meines aufziehenden Kaufrausch entging mir die Stille, die aus Nachbarkabine kam. Mit einem beherzten Was-bitte-kostet-die-Welt-Griff riss ich den Vorhang zur Seite: Jetzt lärme ich! Meine Shoppinglust will bedient werden!

Das Pärchen, was an meiner Kabine vorbei schlich, sah müde aus. Als hätten der Mann und die Frau gerade ihren zweiten Marathon nach dem Frühstück hinter sich gebracht.
„Was bin ich froh“, sagte die Frau, „dass du nur einmal im Jahr Geburtstag hast.“

15.11.2014
 


 
BERÜHRT


Strohmann hat jetzt ein Handtuch unter seinen Rechner gelegt. Nicht etwa, weil der Rechner nässt. Oder weil er undicht ist. Obwohl, undicht ist gar nicht so falsch. Das Tuch soll das Tippen auf der Tastatur leiser machen. Vielleicht hilft das. Als Strohmann einmal den Müll runterbrachte, lief ihn die ältere Frau über den Weg, die in der Wohnung unter ihm wohnt. „Das Kapitel fünf sollten sie noch einmal anschauen“, sagte die Frau und nahm die Zeitung aus dem Briefkasten.
Strohmann erstarrte. „Wie bitte? Was soll ich?“
„Kapitel fünf“, sagte die Frau, „ich glaub, das ist zu traurig.“

Seit seiner Jugend schreibt Strohmann an einem Roman. Jeden Abend sitzt Strohmann an seinem Computer und schreibt. Früher saß er vor einem Gerät, dass den schönen Namen Schreibmaschine hatte. Das Besondere an der Maschine war, dass sie nur schrieb, wenn Strohmann ihre Tasten drückte.
Das ist lange her. Nun sitzt Strohmann an einem Rechner. Abend für Abend tippt er ein paar Sätze. Am nächsten Tag löscht er die Sätze meist wieder. Und schreibt neue. Strohmann wird bald fünfzig. Mit seinem Roman ist er bei Kapitel sieben.

Nach der Begegnung mit seiner Nachbarin fühlte sich Strohmann unwohl. Er glaubte sich verfolgt. Woher wusste die Krähe, dass er ein Buch schrieb? Und woher wusste sie, dass Kapitel fünf wirklich viel zu wehmütig war?

Es dauerte eine Weile bis Strohmann dahinter kam. Beim Abendessen blätterte er in der Zeitung. Da las er von der Entdeckung einiger Wissenschaftler. Diese hatten ermittelt, welchen Hinweis der individuelle Tastenanschlag auf den emotionalen Zustand des Computernutzers gibt. Traurigkeit oder Freude, Müdigkeit oder Stress, all dies konnten die Forscher bestimmen, wenn sie nur das Bedienen der Tasten des Schreibers verfolgen.

08.11.2014


 
ERZIEHUNG

In der Bahn sitzt mir eine junge Frau gegenüber. Ihre Brille ruht lässig auf der Stirn. In der einen Hand hält die Frau ihr Handy, mit dem Zeigefinger der anderen Hand bohrt sie in der Nase. Ab und an zieht sie den Finger aus der Nase, blickt vom Display des Handys auf und betrachtet die Fingerkuppe. Dabei hält sie ihren Finger derart nah an das Auge, dass ich befürchte, sie könnte durch einen winzigen Ruck ihr Augenlicht verlieren. Nachdem die Frau die Fingerkuppe eingehend studiert hat, wandert diese in ihren Mund. Dort werden die Nasensteine genüsslich zerrieben, bis der Finger erneut in der Nase verschwindet.

Ich finde das eklig. Also versuche ich, woanders hinzusehen. Es geht nicht. Immer wieder muss ich zu der Frau sehen. Angespannt verfolge ich ihr Bohren in der Nase und was darauf folgt. Die junge Frau bemerkt meinen Blick. „Was?“, fragt sie und dehnt das A bedrohlich in die Länge.
 
Bemüht lässig tippe ich an mein Brillengestell.

„Was?“, wiederholt die Frau und schiebt ihre Brille auf die Nase. Hinter den Gläsern werden ihre Augen so klein wie Sandkörner. „Bist du mein Alter? Oder was?“, fragt die junge Frau und widmet sich wieder ihrem Zeitvertreib.

04.11.2014



KUNDE

Letzten Monat schloss die Videothek an der Ecke. Die Konkurrenz aus dem Internet sei zu groß, erklärte mir der Inhaber. Das verstand ich gut. Seit Monaten hatte ich mir dort keine Filme mehr ausgeliehen. Gestern entdeckte ich nun, dass auch das Beerdigungsinstitut, das jahrelang neben der Videothek untergebracht war, die Pforten dicht macht. Ich bekam ein schlechtes Gewissen. Nicht wegen der Konkurrenz. Grund meiner Verstimmung war ich. Besser gesagt mein Leben als Kunde. Während mir die Videothek mit der Zeit immer unwichtiger wurde, hatte ich mich in das Bestattungsunternehmen noch nie verlaufen.

31.10.2014


 
DEFEKT

Vor mir schiebt ein Mann einen Kinderwagen. Der Wagen glänzt, als könnte man mit ein bisschen Willen das Preisschild irgendwo entdecken. Und er ist breit, hat Platz für zwei Kinder.

Als ich den Mann überhole, riskiere ich einen Blick in den Wagen. „Da sind ja gar keine Kinder drin“, stelle ich erstaunt fest.
„Was denkst du“, sagt der Mann und zeigt mir seine gelben Zähne. „Ich fahr‘ doch die Bälger nicht noch spazieren. Soweit kommst noch.“
„Und der Wagen?“
„Was soll mit dem sein? Der Wagen ist im Eimer. Hier“, sagt der Mann und deutet auf einen kleinen Riss in der Abdeckung. „Jetzt bringe ich das gute Stück zurück. Die können sich auf was gefasst machen.“

22.10.2014



SCHWENDLER


Peter Schwendler stand im Foyer des Konzertsaals und wartete darauf, dass man die schweren Türen öffnete. Schwendler war müde, im Grunde hatte er keine Lust zwei Stunden in einem viel zu weichen Sessel, eingehüllt von schlechter Luft den Klängen von Mozart und Beethoven nachzusinnen. Doch Schwendler hatte ein Anrecht auf das alles. Wie andere Mütter ihren Söhnen Strümpfe schenkten, weil sie selbst im Winter rasch kalte Füße bekamen, legte ihm seine Mutter jedes Jahr einen Konzertgutschein unter den Weihnachtsbaum. Schwendlers Mutter liebte klassische Musik.

Ein großer, bärtiger Mann kam auf Schwendler zu. Herzlich begrüßte dieser die Frau, die eine Armlänge von Schwendler entfernt stand. Schließlich wandte sich der Mann Schwendler zu. „Und Sie sind also dieser Schwindler?“, fragte er. Schwendler, der glaubte seinen Namen gehört zu haben, nickte eifrig. Der Bartmann trat einen Schritt näher. „Junge, Junge“, sagte der Mann mit einem verschwörerischen Unterton. „Ihre Frau hat mir ja Sachen von Ihnen erzählt.“ Der Bartmann blinzelte kurz zu der Frau, dann sah er wieder zu Schwendler. „Mein lieber Junge! Traut man Ihnen gar nicht zu. So ein Doppelleben. Bei solch einer tollen Frau. Und dass -. Wie lange haben Sie das nochmal durchgezogen?“

Schwendler spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Von jetzt auf gleich war er Ziel sämtlicher Scheinwerfer geworden. Anders konnte er sich diese Hitze nicht erklären. Gleich würde jemand rufen: „Danke!“ Und eine dieser Klamauksendungen im Fernsehen hätte einen neuen Sketch.

Endlich wurden die Flügeltüren auseinander geschoben. „Worauf wartet denn mein Peterchen?“, fragte ihn seine Mutter. Sie saß auf einem der winzigen Hocker, die an der Wand aufgereiht waren. „Sei so lieb und verabschiede dich von dem netten Herrn“, drängte sie. „Und lass uns reingehen.“

18.10.2014
 



ERHOLT


Nach hunderten Telefonaten, drei Meetings und fünf Konzeptentwürfen hatte sich für 18 Uhr noch ein Kunde angemeldet. Kurz vor der abgemachten Zeit schluckte ich zwei Kopfschmerztabletten, da meldete die Sekretärin schon einen gewissen Mollbauer. Ich kannte den Mann. Ein netter Mensch. Seine Klage gegen unsere Firma lief noch. 

„Ich grüße Sie“, log ich aufrichtig, als Mollbauer eintrat. „Setzen Sie sich doch.“
Mollbauer blieb mitten im Raum stehen. Fragend sah er mich an, als hätte er vergessen, weshalb er hier war. „Sie sehen prächtig aus“, rief er plötzlich aus. „Richtig erholt. Toll. Einfach toll!“
„Freut mich“, log ich weiter.
„Lassen Sie mich raten. Sie sind gerade aus dem Urlaub gekommen?“
„Nein“, versicherte ich und überlegte, wann ich das letzte Mal ein paar Tage frei hatte.
„Und dann komme ich“, sagte Mollbauer. „Gleich am ersten Tag bekommen Sie es mit mir zu tun. Ich hatte ja keine Ahnung. Mann, sehen Sie gut aus.“
Mollbauer trat einen weiteren Schritt vor und musterte mich. Irgendwas führte der Mann im Schilde. Natürlich war seine Freundlichkeit nur die Blendgranate vor dem großen Angriff. „Ich wollte mich bei Ihnen entschuldigen“, sagte er kleinlaut. „Dass mit der Klage war ein Fehler. Ach was, ein Riesenfehler. Ich hatte einfach zu viel um die Ohren. Konnte nicht mehr klar denken. Hatte Überstunden bis zum Abwinken. Sie kennen das sicher. Und jetzt wollte ich Ihnen nur sagen, dass ich …“

Mollbauer stockte und schob seine Hände in die Jackentaschen. Dort sah ich sie arbeiten. Vielleicht suchten sie seinen Spickzettel. „Ich habe heute“, hob Mollbauer erneut an, „ich habe gerade die Klage zurückgezogen.“

14.10.2014 



ABGEFAHREN

Der Zug hat Verspätung. Ich lasse mich auf eine der Bänke fallen. Da erst bemerke ich die junge Frau, die neben mir sitzt und ihr Telefon blank wischt. Die Haare der Frau sind lang und schwarz. Sie glänzen, als wären sie mit Lackfarbe besprüht. Der silberne Ring, der ihr im rechten Nasenflügel steckt, funkelt frech. Und die Lederjacke, die die Frau trägt, ist mindestens eine Nummer zu klein. Doch die Rundungen der Frau stören sich an solchen Kleinigkeiten nicht. Ich auch nicht. Ich bin hingerissen. Bevor mich meine schmutzigen Alte-Herren-Gedanken endgültig vom Pfad der Tugend abbringen, dreht sich die junge Frau um und schenkt mir ihren Laserpointblick.

„Sorry“, sage ich und reibe mir die Augen. „Sonst falle ich nicht gleich mit der Tür ins Haus. Aber …“
„Was aber?“
„Sie sehen echt gut aus, irgendwie abgefahren.“
„Abgefahren?“ Die Frau lacht, ihre Stimme zittert leicht. „Spaßvogel! Sie sind wirklich ein Spaßvogel!“

Ich überlege, wann mich jemand das letzte Mal Spaßvogel genannt hat. Als ich nicht darauf komme, frage ich: „Wieso das denn?“

„Weil mich mein Freund sitzen gelassen hat. Hat mich einfach sitzen lassen.“ Um der Szene noch mehr Dramatik zu verleihen, hält mir die Frau ihr Telefon unter die Nase. „Dabei wollten wir übers Wochenende wegfahren.“  

10.10.2014
 



TEILEN

Im Kaufhaus. Die Schlange vor der Kasse reicht bis in den Gang. Als ich endlich dran bin, bedient mich eine Frau mit einem Augenfehler. Genau genommen sind es zwei Fehler. Die linke Pupille ist den Feuerlöscher gerichtet, der links an der Wand hängt. Das andere Auge nimmt rechts eine der Türen ins Visier. Plötzlich ruft die Frau: „Teilen Sie sich bitte auf!“
Ich bin verunsichert. Meint die Frau die wartenden Kunden, damit die anderen Kassen benutzen. Zur Sicherheit frage ich: „Meinen Sie mich?“
„Unsinn“, brummt die Frau. „Sehe ich Sie etwa an?“

06.10.2014 


WEIGERUNG

Seit einer Viertelstunde versuchte die Ärztin ihren Patienten mit Engelszungen zu einer gesünderen Ernährung zu motivieren. Der übergewichtige Mann lächelte nur. Er wusste, noch fünf Minuten, dann hätte er die Predigt hinter sich. Noch zehn Minuten und er könnte endlich an der Straßenecke eine Bratwurst essen.

Die Ärztin wippte angespannt auf ihrem Stuhl. Schließlich neigte sie sich über den Tisch und sah dem Mann tief in die Augen. „Menschen“, sagte sie betont leise, „also Leute, die Sport treiben, haben besseren Sex.“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Ich habe keinen Sex“, erklärte der Mann müde, „nicht mal besseren. Deshalb, liebe Frau Doktor, werde ich auch keinen Sport treiben.“

02.10.2014



PÄCKCHEN

Vor einem Jahr klingelte es an der Tür. Ein Mann fragte mich, ob ich das Päckchen für Frau Fischer entgegen nehmen könnte. „Warum sollte ich?“ fragte ich und meinte damit meinen Kollegen, mit dem ich gerade telefonierte. „Weil Frau Fischer nicht aufmacht“, sagte der Postbote.

„Ist die wieder nicht da?!“, sagte ich und meinte wiederrum eine Kollegin, deren Schicht ich übernehmen sollte.
„Schlaues Köpfchen“, erwiderte Mann an der Tür. „Deshalb frage ich Sie, ob Sie so freundlich sein könnten …“

Ich war so freundlich. Ich nahm das Päckchen an. Und obwohl der Mann nervte, schenkte ich ihm großzügig ein Autogramm. Meine soziale Ader pulsiert halt pausenlos.

Das Päckchen beließ ich im Flur. Und dort lag es. Denn Frau Fischer war auch die nächsten Tage nicht da. Es kam noch besser. Die Frau war vor Wochen ausgezogen. Nur hatte ich davon nichts mitgekriegt. Der Volksmund sagt, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat. Das ist schön gesagt. Vor allem von denen, die kein Päckchen haben. Ich dagegen hatte das Päckchen einer fremden Frau zu tragen.

Jedes Mal, wenn ich durch den Flur ging, stieß ich auf das Päckchen. Und ich gehe oft durch den Flur. Jedes Mal fragte ich mich, was in dem Päckchen schlummerte. Was bestellt eine junge Frau? Kosmetik? Schuhe? Handschellen? Wenn ich das Päckchen sacht schüttelte, passierte nichts. Kein Rascheln, kein Klirren. Nichts. Vielleicht Handtücher. Oder Bettwäsche.

Gestern jährte sich meine freundliche Päckchenannahme. 365 Tage bin ich nun um die stille Post geschlichen, habe daran geklopft, daran gerochen. Jetzt trug ich es in die Küche. Dort legte ich es auf den Tisch. Der Absender kam mir bekannt vor. Ein Hamburger Teeversandhaus, bei dem ich früher bestellt habe. Bis eine Lieferung ausblieb. Und ich auf ein Teehaus in Bremen umstieg. Die Adresse kannte ich ebenfalls. Klar, es war die Straße, in der ich wohnte. Meine Hausnummer. Dass mein Name angegeben war, fand ich doch seltsam. Das Päckchen war an mich gerichtet, nicht an die verzogene Nachbarin.

27.09.2014


VERSCHWÖRUNG

Samstag. Ich saß in der Bahn. Vor mir eine Frau. Neben ihr ein bulliger Koffer. Immer wieder glitt die Hand der Frau über den schwarzen Stoff. Die Frau streichelte den Koffer wie einen Hund. Vielleicht knurrte der Koffer, weil er aufgeregt war. Ich hörte es bloß nicht. Dafür roch ich den Duft, der von der Frau ausging. Der Geruch erinnerte mich an die Duschcreme, die in Hotels ausliegt. In Herbergen, die auf Französisch machen und in der Übersetzung versprechen ‚mit Mobiliar‘ ausgestattet zu sein, findet sich in den beengten Bädern jener milchige Hautschmeichler. Oft dachte ich, wenn ich früh in einem der Hotels das dort ausliegende Duschgel benutzte: Prima, jetzt stinkst du wie all die anderen zweihundert Gäste des Hauses. Doch spätestens bei meinen Streifzügen durch die fremde Stadt lasse ich in der Regel meinen Missmut über die Gleichmacherei hinter mir.

Als ich aber in der Bahn den Geruch der Frau einatmete, drängte sich mir erneut der Gedanke auf. Schlimmer, in Sekundenschnelle mutierte die harmlose Ahnung zum komplexen Verdacht. Es ist die kalkulierte Absicht der Hotelkette, folgerte ich, dass Mann wie Frau aus Gründen der profanen Wiedererkennung das gleiche Gel benutzen. Denn wie Gefängnisse und Krankenhäuser dienen Hotels neben dem Aufenthalt sowie der Genesung vor allem der Internierung und der Kontrolle.

22.09.2014



MÜDE

Mir fallen die Augen zu. Was natürlich Unsinn ist. Es sind die Augenlider, die mir zu fallen. Ich spüre, wie mich die Müdigkeit einschnürt. Meine Arme und Beine werden immer schwerer. Ich wünschte, dies würde mir abends passieren. Weit gefehlt. Wenn ich abends im Bett liege, kann ich nicht schlafen. Wenn ich in einer wichtigen Versammlung sitze, werde ich schlagartig müde.
In der Ferne höre ich eine Stimme, die mir bekannt vorkommt. Dagegen sind mir die Erfolge, die die Stimme beschwört, unbekannt. Ziemlich weit weg sind die. Beim besten Willen, ich kann sie nicht erkennen. Vielleicht liegt das ja daran, weil ich die Augen geschlossen halte. Als höflicher Beifall tröpfelt, gebe ich meinen Kampf auf. Ich wehre mich nicht mehr. Ich lasse los. Für die nächsten hundert Jahre lasse ich einfach los.
„Wolle Rose kaufe?“ Ein Mann, der wie Bernd das Brot aussieht, hält mir ein paar verwelkte Blumen unter die Nase.

Ich muss niesen und sehe, wie ein kleines Tier durch die Dunkelheit huscht. Das kleine Tier ist meine Hand. Als sie den Lichtschalter drückt, schrecke ich hoch. Auf dem Schränkchen neben mir liegen ein paar Blätter. Der Wecker, der die Szenerie aufmerksam bewacht, zeigt drei Stunden nach Mitternacht. Langsam lasse ich meinen Kopf wieder auf das Kissen sinken. Noch zwölf Stunden und ich habe meine Rede zu halten.

22.09.2014


 

MOTETTE

Eingezwängt zwischen Touristen aus Bayern und Brandenburg sitze ich im Kirchenschiff. Es ist völlig windstill. Auf der Musik von Bach und Reger lass ich mich treiben.

Früher ging ich oft zur Freitagmotette. Da saß ich mit einem Kumpel auf der Empore. Von dort fahndeten wir nach der Frau fürs Leben. Die Empore gibt es noch. Den Freund nicht mehr.

Obwohl ich ewig nicht hier war, erkenne ich alles wieder. Der dünne Mann am Kreuz hat kein Gramm zugelegt. Mit seiner ungesunden Körperhaltung macht er keine gute Figur. Überhaupt, wann sagt endlich jemand dem Mann, dass er auferstanden ist.

Die Leute, die zu spät kommen, hüsteln und schniefen wie eh und je. Die Sorge, nicht bemerkt zu werden, ist ein über Generationen vererbbares Leid.

Hier und da sehe ich junge Mütter und Väter. Fleißig üben deren Kinder den Gesichtsausdruck der Eltern. Die Stirn in tausend Falten, die Lippen zu einem einzigen Strich. Doch bald werden die Kids unruhig. Emsig versuchen sie den verpassten Turnunterricht nachzuholen. Wie unter Drogen zappeln und laufen sie umher. In den kurzen Verschnaufpausen trommeln sie dann völlig taktlos auf ihren Holzsitzen. Und wenn gar nichts mehr geht, schreien sie gegen den Knabenchor an. Der bestand schon früher nur aus Jungs.

Auch bei dem Chor hat sich nichts geändert. Selbst, dass der eine oder andere Knabe wie ein Mädchen klingt.

20.09.2014



GEZEICHNET


Erste Flecken entdeckte ich nach dem letzten Jahresurlaub. Auf der Stirn hatten sich kleine Stellen nicht mit gebräunt. Sie blieben einfach blass. Dann bildeten sich weiße Kreise an den Armen, auf den Händen.

Im Markus Evangelium heilt Jesus einen Aussätzigen. Nach dem er das Wunder vollbracht hat, mahnt Jesus den Mann, zu schweigen und zum Priester zu gehen.
Ich ging zum Arzt. Vitiligo, die Weißkrankheit, erklärte mir der Mann im weißen Kittel, ist das Ergebnis von erhöhtem Stress und Diabetes Typ 1. Die Hautkrankheit sei nicht ansteckend, aber auch nicht heilbar. „Wir könnten Sie mit UV-Licht behandeln“, schlug der Arzt vor. „Oder mit Make up.“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Während ich noch überlegte, welche Variante ich wählen sollte, tröstete mich der Mann: „Seien Sie froh, dass Sie nicht in Indien leben. Dort haben Menschen mit Vitiligo den Status von Leprakranken.“

12.09.2014



UHR


Langsam kam der junge Mann aus der Werkstatt. Am Ladentisch blieb er stehen. Als müsste er überlegen, welchen Preis er mir berechnen wollte, hüstelte er nervös. Er schien unschlüssig, vielleicht hatte er den Laden gerade erst übernommen. Schließlich sah er mich an. „Die hat aber lange gehalten“, sagte der Mann und legte meine Armbanduhr auf die Glasplatte. „Die Batterie war von 2009. Alle Achtung!“
„Ich habe die Uhr lange nicht getragen“, gab ich zu. „Die lag die letzten zwei, drei Jahre im Schrank. Ich dachte, ich komme ohne Uhr aus.“

Kaum hatte ich das gesagt, wurden mir meine Worte bewusst. Gegenüber einem Uhrmachermeister musste meine bekennende Uhrenthaltung eine Beleidigung höchsten Ranges sein. Wenn mich der Mann nicht auf der Stelle steinigt, wäre Hausverbot das Mindeste, womit er zu rechnen hatte.

„Verstehe“, sagte der Mann. „Wer braucht heute noch eine Uhr. Überall springt einem die Uhrzeit entgegen. Computer, Handy. Kein Schwein braucht heute eine Armbanduhr.“
Der junge Mann grinste frech, als hätte er mir einen schweinischen Witz erzählt. „Aber“, schob er eilig nach, „sagen Sie das bloß nicht meinem Vater. Bloß nicht!“

08.09.2014



BLECH

Während einige Musiker die Pause auf der Bühne verbringen, sitzen zwei am Rand und rauchen.

„Mensch, spielt die Müller heute wieder ein Blech“, sagt einer der Musiker. Der andere winkt ab und entgegnet: „Und der Hallmann erst. Der könnte glatt als Maler durchgehen. So ein Zeug streicht der zusammen.“ 

06.09.2014


 

ANGENEHM

Auf der Suche nach einem neuen Auto machte Lea einen erstaunlichen Fund. Im Netz stieß sie auf das Foto eines ehemaligen Kollegen. Vor zwei, drei Jahren hatte Rüdiger gekündigt. Vom Lageristen war er zwar zum Aushilfskassierer aufgestiegen. Doch da war für ihn Schluss. Die letzte Sprosse auf der Karriereleiter war erreicht. Aus diesem Grund griff Rüdiger sofort zu, als man ihm einen Posten in einem Autohaus anbot.
Rüdiger war neben anderen Mitarbeitern des Hauses auf der Firmenseite im Netz abgebildet. Früher bewegte er sich gern leger, trug einen gepflegten Dreitagebart, bequeme Jeans und T-Shirts vom Wühltisch. Auf dem Foto war Rüdiger rasiert. Nicht ein Härchen war auf seiner Wange zu sehen. Sein gedrungener Körper steckte in einem fliederfarbenen Anzug. Sogar eine Krawatte zierte nun sein Oberkörper.


Lea sah sich das Foto lange an. Sie wunderte sich, dass sie keine Verwunderung spürte. Im Gegenteil. Sie musste sich eingestehen, dass die jetzige Kleidung zu ihrem ehemaligen Kollegen passte. Der Anzug wirkte nicht wie eben mal geliehen und für den Fototermin ausgesucht. Rüdiger steckte in keiner Verkleidung. Mit einer anständigen Portion Stolz, die dennoch einen Zipfel Freundlichkeit zuließ, schaute er in die Kamera. Ohne Umschweife besagte das Bild: Rüdiger war angekommen, war dort, wo er immer hin wollte. Als hätte schon ewig der Anzug nebst Krawatte in seinem Schrank gelegen, trug er die Kleidungsstücke wie selbstverständlich. Lea, die all das geahnt hatte und deshalb nicht überrascht war, wählte die Telefonnummer. Lea freute sich. Die warme Stimme ihres einstigen Kollegen, mutmaßte sie, kam aus der neuen Kleidung sicher noch angenehmer.

28.08.2014



FRÜHER

Früh am Morgen. Ein Mann und eine Frau stehen vor dem Bäcker. Die Frau hält zwei Einkaufsbeutel in der Hand. Der Mann eine Leine. Am anderen Ende der Leine zieht ein Hund, der aussieht, als ist er gerade aus der Waschmachine geklettert. Frisch geschleudert und leicht zerknittert. Dagegen haben Beutel und Frau schon bessere Zeiten erlebt. Schlaff und grau zittern sie bei der kleinsten Windböe, die müde um die Hausecke schleicht. Der Mann macht mit seinen geschätzten siebzig Jahren einen stattlichen Eindruck. Rundes, rosiges Gesicht. Volles Haar, das so weiß ist, als wäre es gefärbt. Und ein Bauch, der jeder Dürrperiode trotzen könnte.

Neugierig schnuppert der Hund an dem eingerissenen Hosenbein der Frau.
Hör auf zu schnüffeln, bellt der Mann seinen Hund an.
Ach lassen Sie ihn, lenkt die Frau ein und streichelt das Wollknäul. Sie schnüffeln doch auch bei den Frauen.
Ich schnüffle nicht, entgegnet der Mann und rüttelt an der Tür. Erfolglos.
Männer, stöhnt die Frau. Mein Mann schnüffelt auch nicht. Schon lange nicht mehr. Dabei war‘s früher so schön.
Früher, schwärmt der Mann plötzlich, ja früher.
Die Frau lächelt verliebt. Nicht? sagt sie.
Da wusste der Bäcker wenigstens noch was ne Uhr ist, sagt der Mann. Da wurde pünktlich aufgemacht. Früher.

22.08.2014

 



TEMPO


Mein Zug hatte Verspätung. So konnte ich den Anschluss vergessen. Noch auf dem Bahnsteig hatte ich meine nun wertlose Platzkarte einem Sammler angeboten. Auf seine Antwort warte ich noch heute.

Im nächstbesten Zug setzte ich mich auf den erstbesten Platz. Zu meiner Freude saß neben mir eine Frau. Neben einem sitzende Männer beanspruchen die Lehne für sich. Rücksichtslos drängeln sie einem ihre Beine in die Umlaufbahn. Und sie ziehen den Rotz, den sie in der Nase haben, lautstark nach oben. Obwohl ich auch gelegentlich dieser Angewohnheit nachgehe, weiß ich nicht, was Männer dazu antreibt. Vielleicht hoffen wir, dass unser Gehirn die schleimige Masse zu neuen Zellen formt.

Neben einem sitzende Frauen sind anders. Die Lehne überlassen sie einem kampflos. Ihre Beine halten sie verschämt im eigenen Revier. Und Körpergeräusche geben sie einzig beim Telefonieren von sich. Doch die Frau, die im Zug neben mir saß, war anders anders. Sie hantierte weder mit einem Handy, noch hörte sie Musik. Sie las oder hielt die Augen geschlossen. Das Buch, was sie in den Händen hielt, behandelte die Grundsatzfrage: Weshalb sich Hund und Mensch so gut verstehen. Die Frau war ungefähr in meinem Alter, vielleicht auch jünger. Ihr volles, dunkles Haar fiel ihr bis weit über die Schultern. Die silbernen Armreifen klingelten nervös selbst bei der kleinsten Bewegung.

Vier Stunden Fahrt lagen vor uns. Zeit genug, um die Frau kennen zu lernen. Schließlich fand ich die These des Buches etwas abwegig. Darüber sollten wir reden. Ich schob mir also zwei Kaugummis in den Mund, zog den Bauch ein und redete mir Mut zu. Dass mit dem Bauch musste ich bald aufgeben. Irgendwann bekam ich zum Reden keine Luft mehr.

In der ersten Stunde berührte ich versehentlich absichtlich den linken Fuß der Frau. In der zweiten Stunde ließ ich den Verschluss meiner Wasserflasche auf ihre Hand fallen. In der dritten Stunde streifte ich mit meiner Zeitung betont sanft ihre Wange.

„Mein lieber Mann“, sagte die Frau plötzlich. „Sie legen sich ja mächtig ins Zeug. Wenn Sie so weiter machen, haben wir unser erstes Date als Rentner.“

 

09.08.2014



SCHWESTER


Ich stand im Büro eines Steinmetzes. Vor Tagen erhielt ich einen Brief vom Amt, der Grabstein meiner Schwester sei locker. Sie war schon immer ein Wildfang. Immer Rebellion, immer in Bewegung. Selbst unter der Erde. Vor kurzem hatte sie einen runden Geburtstag. Hätte sie gehabt. Jedenfalls war sie im Feiern früher schon eine Meisterin.

Der Steinmetz schaute auf mich herab. Er war einen Kopf größer. Und um einiges schlanker als ich. Sein kleiner Mund, in dessen Ecken sich der Speichel für trockene Tage sammelte, lag wie versteckt hinter einem Knäuel langer schwarzer Barthaare. Dagegen waren die Haare, die ihm auf dem Schädel wuchsen, so kurz geschnitten, dass die Haut rötlich durchschimmerte.

„Die Sache mit dem Stein“, sagte der Mann zuversichtlich, „dass kriegen wir hin. Wir wollen doch nicht, dass Ihre Schwester schlecht von Ihnen denkt.“

05.08.2014



STRESS


Nach zwei Wochen Urlaub heute erster Arbeitstag. Ab vier Uhr konnte ich nicht mehr schlafen. Erlebte, was mich erwarten würde, in der Vorpremiere. Völlig kostenlos. Dafür im Kopf. Und mit geschlossenen Augen. Um dem Happy End zuvor zu kommen gegen fünf dann doch aus dem Bett. Ans Fenster. Die Vögel schliefen noch. Klar, ist ja Sommerzeit. War also erst um vier. Oder war es schon um sechs? Und die Vögel hatten Urlaub. Egal. Halt dem Regen zugeschaut. Der aber wusste es auch nicht besser. Der Tag wird stressig, trommelten die Tropfen im fehlerfreien Morsealphabet aufs Fensterbrett. Der Tag wurde stressig.

04.08.2014



THEATER


Vor dem Schlafengehen verließ ich jeden Abend noch einmal meine Unterkunft. Ich setzte mich auf eine Bank, die sinnigerweise in der Nähe eines Geldinstitutes stand. Kaum saß und rauchte ich, trat, wie auf Bestellung, ein Mann aus dem Dunkel einer Nebenstraße. Bestellt hatte ich ihn nicht, der Mann erschien dennoch. Jeden Abend trug der Mann sein Jackett über den rechten Arm, mit der linken Hand hielt er eine Aktentasche. Die wenigen, ihm verbliebenen Haare waren sorgfältig von einem Ohr zum anderen Ohr gekämmt. Der Geruch, der von ihm ausging, erinnerte an eine Tüte Pfefferminzbonbons. Eine Tüte, die zu lange in der Sonne gelegen hatte. Vor der Tür des Geldhauses blieb der Mann stehen, räusperte sich und versuchte die Tür zu öffnen. Ohne Erfolg. Darauf schüttelte er verwundert den Kopf und rüttelte nochmals an der Tür.

Das kleine Schauspiel wiederholte sich jeden Abend. Trotzdem wirkte der Mann seltsam fahrig und unsicher. Vielleicht probte er noch. Allein sein Lampenfieber wirkte bereits ausgereift. Schließlich brummelte der Mann gequält: „Dreißig Jahre habe ich hier gearbeitet. Und jetzt?“

Fragend sah er mich an. Ab dem zweiten Abend wusste ich, was nun folgen würde. Ich ließ dem Mann den Vortritt. Es war sein Part. Würde es jemals zur Premiere kommen, musste er seinen Text auch allein aufsagen. Mit oder ohne Lampenfieber. „Und jetzt?“, griff er dankbar sein eigenes Stichwort auf. „Jetzt bin ich für alle Luft. Meine Kollegen lassen mich nicht einmal rein, um Guten Tag zu sagen.“

Nachdem der Mann seine Klage los geworden war, drehte er sich um und lief, die hupenden, bremsenden Autos ignorierend, quer über die Straße.

01.08.2014


BEGLEITUNG

Nach meinem Rundgang durch das Museum wollte ich den angrenzenden Turm besteigen. Der Weg dahin führte mich an einigen Türen vorbei. Die meisten waren geschlossen. An einer, die geöffnet war, blieb ich stehen. Weit über den Schreibtisch lehnte eine Frau und suchte verzweifelt auf ihrer Tatstatur die Buchstaben zusammen. Statt ihr zu helfen, fragte ich, wie ich am besten auf den Turm komme. „Das geht nur in Begleitung“, erwiderte sie, als hätte ich um eine Tanzstunde gebeten.

„Warum das denn?“, fragte ich. „Haben Sie Angst, dass ich runterspringe?“
„Was?“, stieß die Frau aus und drückte erleichtert auf eine der Tasten.
„Dann begleiten Sie mich eben“, lenkte ich ein.
„Was denken Sie?!“ Die Frau hob ihren Kopf. Ihr Blick durchleuchtete mich. Für einen Moment fahndete die Frau jetzt nach versteckten Geschwüren und Zisten. „Ich habe zu tun“, sagte sie nach eingehender Prüfung. „Wer erledigt denn den ganzen Papierkram?“

Das nannte man wohl ein klassisches Patt. Sie hatte zu tun. Ich hatte Urlaub. Und keiner machte den Anschein in den nächsten Tagen daran etwas ändern zu wollen.

„Also gut“, räumte die Frau. „Ich rufe den Alexej, der wird Sie begleiten.“ 

26.07.2014
 


UNSICHER

Im Dom von Würzburg fragte mich gestern eine Frau, ob sie hier im Dom von Würzburg sei. Ich nickte. Ob ich sicher sei, fragte die Frau. Ich nickte erneut. Sie hätte nämlich mal in München im Dom gestanden, erzählte die Frau, dabei war es gar nicht der Dom von München, sondern der Dom von Regensburg. Die ganze Zeit hätte sie gedacht, sie stehe im Dom von München. „Ohne, dass ich es merkte, stand ich nicht nur in einem anderen Dom“, sagte die Frau, „ich stand auch im Dom einer anderen Stadt.“ Die Frau lachte heißer und stellte zufrieden fest: „Aber das ist jetzt der Dom von Würzburg.“ 
Ich nickte. Ebenfalls zufrieden. War mir aber nicht sicher.

24.07.2014



VORBILDER

Seit der Fußballweltmeisterschaft vergeht kein Nachmittag ohne lautstarkes Ballspiel unter meinem Balkon. Dabei setzen die Kids gekonnt auf ihre Vorbilder. „Ich bin jetzt der Götze“, ruft einer. Ein anderer antwortet: „Und ich der Klose.“ Dass die deutschen Nationalkicker hier gegeneinander spielen, kann lediglich einen Deppen mit beschränktem Fußballhorizont verwundern. Dass keiner der Jungs mit dem Ruf: „Ich bin Lahm!“, seine Runden zieht, mag, so vermute ich, allein am synonymhaltigen Namen liegen, weniger an dessen Rücktritt aus der Titelelf. Als ich noch in der mäßig dotierten, dafür ungemein beliebten Hofmannschaft trippelte, vermied auch jeder Bernd Hölzenbein zu sein.

19.07.2014
 



NUMMER


In der Schalterhalle des Bahnhofs. Fünf der elf Schalter sind geöffnet. Das ist ein guter Schnitt. Schließlich ist Urlaubszeit. Da soll man nichts überstürzten. Geduldig warten die Leute, dass ihre Nummer auf einem der Displays erscheint. Ein junger Mann kommt in die Halle und stellt sich an einen Schalter. Der Mann trägt eine Sonnenbrille von der Größe zweier Autoreifen. Seine Hose reicht ihm bis zum Knie, die Füße stecken in ein paar schweren Stiefeln ohne Schnürsenkel. Auf seinem Pullover prangt das Zeichen eines süddeutschen Fußballclubs. Als der vor ihm stehende Kunde seine Fahrkarte bezahlt und eingesteckt hat, nimmt der junge Mann den freien Platz ein. Gereizt fragt die Frau am Schalter nach der Nummer, die er gezogen hat. So wie sie fragt, fragt sie das sicher auch im Schlaf.

„Was für ´ne Nummer?“
„Die Sie am Eingang gezogen haben.“
„Was das, bin ich aufm Arbeitsamt?“
„Nein, Sie sind auf dem Bahnhof und hier ziehen alle eine Nummer. Also auch Sie.“
„Quatsch mich nich voll. Verstehst du? Sonst räum ich dir deinen Scheißtisch ab.“
„Nicht in dem Ton“, mischt sich eine andere Bahnmitarbeiterin ein.
„Du halts Maul.“
„Sie ziehen jetzt eine Marke und warten bis die angezeigt wird.“
„Ich zeig dir gleich was.“ Der junge Mann federt von einem Bein auf das andere, als müsste er dringend auf die Toilette. Und damit auch alle die brenzlige Situation begreifen, hält er ein Feuerzug in die schlechte Luft. Eine spärliche Flamme zuckt auf, dann erlischt sie. Dann zuckt sie erneut. „Also was, krieg ich jetzt meine Karte nach Malle. Oder was?“
„Die Nummer. Nur mit Nummer.“
„Nummer. Ich hör‘ nur Nummer. Ich scheiß‘ auf deine Nummer. Ich will ´ne Fahrkarte.“

Eine ältere Frau betritt die Halle. In die Reisetasche, die die Frau trägt, passt locker der Haushalt einer Kleinfamilie. „Jens-Uwe?“, ruft die Frau und schaut in die Runde. Als sie ihren Liebling entdeckt hat, sagt sie: „Kommst du bitte, die Mama hat die Karte nach Halle am Automaten gekauft.“
Ein letztes Mal spielt der junge Mann mit seinem handlichen Flammenwerfer. „Wir sehn uns“, verspricht er der Schalterfrau und lässt das Feuerzeug in seine Hosentasche wandern. „Und dann schieb ich dir deine Nummer sonst wohin.“
Das Medaillon aus Speichel, das der Mann auf den polieren Fliesen hinterlässt, glänzt grünlich. Er nimmt der Frau die Tasche ab. Beide gehen gemeinsam zum Ausgang.
Vom Beifall der Wartenden bleiben sie verschont. 

02.07.2014



SUPER


Kalle lernte ich kennen, da war er gerade mal sechszehn Jahre. Nachdem seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen waren, wuchs er bei seinen Großeltern auf. Doch die waren bald mit ihm überfordert. Kalle landete in einem Heim. Schließlich kam er in die Wohngemeinschaft, in der ich arbeitete. Die Schule besuchte Kalle damals schon lange nicht mehr. Lieber zog er mit Freunden umher. Er dealte und überfiel gleichaltrige. Als die Bewährungsstrafen nicht mehr zogen, verurteilte man Kalle zu zwei Jahren Haft. Ein paar Mal besuchte ich ihn in C.
Schließlich trennten sich unsere Wege.

Heute sah ich Kalle wieder. Er stand inmitten einiger Typen, von denen man den Blick schwer los bekommt. Auch wenn man besser einen Umweg macht, begegnet man ihnen. Lautstark ließ sich Kalle über einen Kumpel aus, der nun kein Kumpel mehr war. „Verrecken soll er!“, rief Kalle. „Für immer verrecken!“

Kalle hatte die Zeit im Knast genutzt. Sein Oberkörper war perfekt durchtrainiert. Die Muskelberge unter seinem viel zu engen Hemd brachten sämtliche Nähte in Zugzwang. Sein kantiger Schädel war kahl geschoren und glänzte matt. Allein seine Augen sahen etwas zu glasig in den Tag.

Ich holte tief Luft und schob mich an der Gruppe vorbei. „Wir kennen uns!“, hörte ich Kalles Bass. Obwohl es wie eine Drohung klang, blieb ich stehen. „Kalle?!“, spielte ich beim Umdrehen den Überraschten. „Alles okay bei dir?“
„Alles wunderbar“, erwiderte Kalle. „Wenn nur der ganze Dreck nicht wär‘.“ Angewidert wies er auf ein paar Spritzen, die in einem bunten Allerlei von Flaschen und Kippen lagen. „Sonst alles super.“ Kalle lachte bitter und präsentierte mir seine braunen Stümpfe, die früher Zähne waren. „Und bei dir?“, fragte er. „Alles in Ordnung?“
„Alles hervorragend“, antwortete ich, „wenn nur die vielen Gestrauchelten nicht wären.“

29.06.2014



MÄRCHEN


„Du sagst ja gar nichts“, sagte der Mann zu seiner Frau.
Jeden Abend vor dem Zubettgehen stellte der Mann fest, dass seine Frau nichts sagt. Manchmal, wenn ihm danach war, fügte er hinzu: „Nie erzählst du was. Ich weiß überhaupt nicht, was du denkst.“

Aber das kam selten vor. Der Mann hatte seine Gefühle im Griff. Schließlich kannte er seine Frau. Sie war eben keine Plaudertasche. Obwohl sie Taschen mochte. Ihr Kleiderschrank quoll von Handtaschen und Reisetaschen über. Der Mann wusste, dass das in anderen Ehen anders war. Da war es die Frau, die erzählte. Ohne Punkt und Komma. Davon wollte der Mann nichts wissen. Dafür redete er zu gern. Er musste reden. Es war wie eine Sucht. Eine erschwingliche und wenig gefährliche. Und für die Ko-Abhängigkeit hatte er seine Frau. Sie hörte ihm zu.

Nachdem der Mann sein übliches: „Du sagst ja gar nichts“, gesagt hatte, redete er letzten Donnerstag weiter: „Liebst du mich nicht mehr? Ist es das? Rede ich dir zu viel? Mein Gott, jetzt sag doch mal was!“

Seine Frau schwieg. Sie saß da und schwieg. Weder ihr linker Nasenflügel noch die zweite Wimper von rechts zuckte. Der Mann überlegte. Hatte sich seine Frau heute schon bewegt? Und gestern? Seit Wochen saß sie in ihrem Sessel. Irgendwann war die Frau einfach sitzen geblieben. Sie saß und schlief fortan in dem Sessel. Im Anflug einer senilen Sentimentalität griff der Mann nach der Hand der Frau. Das hatte er seit Jahren nicht mehr gemacht. Trotzdem merkte der Mann, dass mit der Hand etwas nicht stimmte. Als ihm klar wurde, dass die Hand kalt war, schreckte der Mann zurück. „Scheiße“, fluchte der Mann, „dabei habe ich dir noch gar nicht erzählt, dass der Werner mal wieder gerechnet hat. Er hat jetzt ausgerechnet, dass die Liese, unsere Frau in der Kantine, die zu jedem ‚Wohl bekomm‘s‘ sagt, dass die das am Tag an die hundertzwanzig Mal sagt. Hundertzwanzig Mal ‚Wohl bekomm’s‘. Das sind bei zwanzig Arbeitstagen im Monat, hat der Werner gesagt, zweitausendundvierhundert Mal ‚Wohl bekomm’s‘. Nicht, dass ich das nachgerechnet hätte. Da ist mir meine Zeit zu schade. Wirklich. Aber der Werner, der rechnet so was aus. Wohl bekomm’s. Willst du noch ein Schluck. Was?“  

20.06.2014



ERFOLG


Letzten Sonntag gönnte ich mir mein Mittag in einem Bistro, das einem vergrößerten Schuhkarton glich. Zumindest roch es so. Der Besitzer des Etablissements lehnte am Tresen. Mit der einen Hand erntete er faustgroße Fusseln von der Hose. Mit der anderen hielt er das Telefon am Ohr und versuchte jemand zu erreichen. Hinter meinem Rücken lief der Fernseher. Chancenlos stocherte ich in meinem Salat gegen die Stimmen vom Bildschirm an. Ein Arzt wollte an einer blinden Opernsängerin eine neue Operation versuchen. Könnte sie ihre sämtlichen Sinne nutzen, lautete das ungemein schleimig vorgebrachte Argument des Arztes gegenüber der skeptischen Künstlerin, würde sie umso besser singen.

Der Film war so spannend wie eine ausgeleierte Wäscheleine.

Lange vor dem Happy End schob ich meinen Teller auf den Tresen. Als Sättigungsbeilage legte ich einen geknickten Schein dazu. Der Bistromann war beschäftigt, obwohl weiterhin keiner mit ihm sprechen wollte. Das kam mir bekannt vor. Es war kurz nach eins. Der Tag zog sich. Und an einem Sonntag zählen bekanntlich die Stunden doppelt.

Ich fuhr nach Hause. Selbst im Auto kannte der Film kein Erbarmen. Egal welchen Radiosender ich einstellte, immer wieder schwappten die Stimmen über. Als passenden Schlusspunkt kam für mich nur die Katastrophe in Frage. Die Operation gelingt, die Frau kann wieder sehen. Bald nach ihrer Euphorie muss sie feststellen, dass ihre Stimme versagt. Ihr Augenlicht hat sie gegen die Stimme vertauscht.
Als gelerntes Sensibelchen verdunkelte mir der schräge Ausgang den Abend. Manche Katastrophen sind eben die reinsten Spielverderber. Nach dem ersten Glas Wein löste sich die Spannung. Für so mutig schätzte ich das Mittagsfernsehen dann doch nicht ein. Die OP ging über die Bühne, die Frau konnte wieder sehen. Ihre Stimme klang schöner als zuvor.

Da war nur noch der Besitzer des Bistros. Nach meinem dritten Glas hatte der endlich jemanden erreicht. Ich sah ihn deutlich vor mir. Leicht gerötet telefonierte er mit der Operndiva. Die wohnte in einem Schuhkarton, der mit Fusseln ausgelegt war.

09.05.2014



BERUHIGT

Hin und wieder begegne ich Speiche. Möglich, dass die Frau Hilde oder Mathilde heißt. Aber sie erinnert mich an eine Tante, die man hinter vorgehaltener Hand wegen ihrem Körperbau Speiche nannte. Als ich klein war, steckte sie mir gern Schokolade zu. Die Süßigkeiten tauschte ich gegen Kaugummi ein.

Ich kenne Speiche nicht wirklich. Ich laufe ihr nur über den Weg. Und Speiche grüßt mich. Wenn sie mich grüßt, dann verbindet sie dies stets mit einem Wunsch. „Einen schönen Feierabend, junger Mann.“ Oder sie duzt mich: „Meine Sonne, ich wünsche dir ein ruhiges Wochenende.“

Anfangs unternahm ich alles, um der Frau aus dem Weg zu gehen. Schon wenn ich sie in der Ferne erkannte, suchte ich nach einem Umweg. Einmal flüchtete ich in ein Geschäft. Aus purer Verzweiflung kaufte ich dort drei verschiedene Haarfestiger. Oder ich fuhr zwei Haltestellten weiter. Es half nichts. Kaum hatte mich Speiche im Visier, winkte Sie mir zu. Dabei rief sie so laut, dass die Leute erst recht auf uns aufmerksam wurden.

Ich wechsle nicht mehr die Straßen. Und ich grüße zurück.

Tagsüber sammelt Speiche Flaschen. Manchmal klaubt sie auch Zigarettenkippen vom Weg. Oder sie sitzt am Eingang des Supermarkts und döst vor sich hin. Meist trägt sie eine ausgeblichene Sporthose, in die mühelos eine weitere Frau passen würde. Und wenn sie mich gerade nicht grüßt, plaudert sie mit sich selbst. „Heute ist schönes Wetter. Wenn das Wetter schön ist, muss ich raus. Wenn es schön draußen ist, muss ich an die Luft. Ich gehe jeden Tag raus. Auch wenn es regnet. Heute regnet es nicht. Obwohl die Regen angesagt haben. Dabei ist heute so ein schönes Wetter. Was die alles erzählen. Hunger habe ich nicht. Ich habe keinen Hunger. Ein Bier, ein Bier könnte ich trinken. Ich darf kein Bier trinken. Die Frau Doktor möchte das nicht. Was die alles erzählt. Der Horst darf Bier trinken. Das ist ungerecht. Ich darf kein Bier nicht.“

Gestern liefen wir uns wieder über den Weg. Nach unserem obligatorischen Hallo blieb Speiche stehen. Sie stand direkt vor mir. Zum ersten Mal bemerkte ich auf ihrer Stirn ein Muttermal, das wie ein drittes Auge wirkte. Speiche stierte mich mit ihren drei Augen an, als wäre sie unsicher, wen sie gerade gegrüßt hatte. „Wohnen Sie noch bei uns?“ fragte sie mit brüchiger Stimme.
Ohne nachzudenken antwortete ich: „Klar doch!“
Was natürlich Unsinn war. Speiche wohnt in einem Pflegeheim. Und ich habe meine Bleibe in einem Wohnhaus. Nur, in dem Moment fiel mir kein Unterschied ein.
„Ich frage deshalb“, meinte Speiche zufrieden und ihr Muttermal verlor etwas an Form, „weil ich dich lange nicht mehr bei uns gesehen habe. Aber wenn du noch bei uns wohnst.“

Speiche drehte sich um. Für sie schien das Thema erledigt. „Da bin ich beruhigt, mein Lieber“, sagte sie und griff entschlossen in einen Papierkorb. „Schönen Abend noch!“   

21.05.2014



BABEL

Am langen Hals des Kontrolleurs hängt sein Ausweis. Auf dem Foto sieht der Mann jünger aus. Viel jünger. Vielleicht ist der Mann gar nicht der, für den er sich ausgibt. Ich zeige ihm trotzdem meine Jahreskarte.

Der Mann geht weiter, steuert auf zwei junge Frauen zu, die gerade eingestiegen sind. „Ihre Fahrscheine bitte“, sagt er. Die beiden Frauen sehen sich fragend an. „Ihre Fahrscheine bitte!“, wiederholt der Kontrolleur professionell freundlich, professionell gelangweilt. Die beiden Frauen blicken hilflos umher, wie Schülerinnen, die gern auf die Frage des Lehrers antworten würden, wenn sie denn wüssten, was er von ihnen will. Eine der beiden beginnt zu sprechen. Sie spricht schnell, zieht die Worte zusammen. Satzzeichen kennt sie nicht. Ich versuche ihre Worte einer Sprache zuzuordnen. Polnisch und russisch höre ich heraus. Etwas Serbisch auch. Der Kontrolleur zeigt auf die Entwerter und auf ein Ticket, das er aus der Tasche zaubert. Auch als die zweite Frau spricht besteht das Gesagte aus einer bunten Melange vieler Sprachen. Kein Zweifel: An den beiden hätte der Turm zu Babel seine helle Freude.

Ich dimme meinen Versteh-Impuls zurück.

Nun ist es der Kontrolleur, der unsicher in die Runde blickt. „Nix verstehen“, gibt einer der Fahrgäste zu Protokoll. Andere zucken mit den Schultern. „Das aber ist Ausnahme heute“, sagt der Kontrolleur genervt. Er spricht, wie man mit Behinderten oder eben mit Ausländern spricht. Laut und mit einem schrägen Satzbau. „Heute Ausnahme. Ihr verstehen?“

Nachdem er die Bahn verlässt, schweigen die jungen Frauen noch eine Weile. Dann bricht es aus ihnen heraus. Ihr Lachen ist hemmungslos und ansteckend. „Nichts geht -“, ruft eine der beiden im akzentfreien Deutsch. „Nichts geht über -.“ Sie hechelt, ringt um Luft. Nach vier Anläufen bringt sie ihren Satz schließlich zu Ende: „Nichts geht über ein großes Maß an Fremdsprachenkenntnisse.“
Die andere Frau wischt sich die Tränen aus den Augen. „Vor allem“, sagt sie und kämpft gegen einen Schluckauf, „vor allem, hick, wenn man, hick, wenn man gar keine hat.“

18.05.2014



FUSSBALL

Samstagnachmittag. An einer Straßenkreuzung. Die Ampel zeigt rot. „Fick dich doch!“, ruft eine Frau in ihr Handy. Ein Motorrad rauscht heran. Mit Blaulicht. Der Polizist stoppt seine Maschine, steigt ab, hebt den linken Arm. Aus dem Nichts tauchen Reisebusse auf. Eskortiert von mehreren Polizeiautos. Die Busse sind voller Menschen. Nicht alle haben einen Sitzplatz. Früher, als die Knastbusse noch durch die Straßen fuhren, war das anders. Da hatte jeder einen Platz. Die Knackis saßen. Selbst im Bus. Was heute vorbei rauscht sind Fan-Busse. 'Fan-Shuttle' prangt über der Heckscheibe. Ich überlege. Sind die Stones in der Stadt? Oder lädt Conchita Wurst zum heiteren Bartzupfen? Keine Minute und der Spuk ist vorbei. Längst sitzt der Motorradpolizist wieder auf seiner Maschine. Tuckert dem Tross hinterher. Die Ampel zeigt rot. Wieder. Zwischendurch gab‘s mal grün.
Ein Mädchen, das in der wartenden Menge steht, kickt einen Kieselstein über die Straße. „Scheiß Fußball“, faucht das Kind, „der hält den verdammten Verkehr auf.“
„Schnecke“, mahnt die Handyfrau, „was hab ich dir gesagt? Du sollst nicht fluchen!“

17.05.2014 


ANKUNFT

Ich sitze am Bahnsteig und warte auf eine Freundin. Neben mir ein Mann, der ein dickes Buch auf den Knien hält. Tief über die Seiten gebeugt fährt er mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam, fast zärtlich die Zeilen entlang. Manchmal stockt der Mann, schaut auf, um sich dann noch konzentrierter der winzigen Schrift zu widmen. ‚Nicht allein aber durch seine Ankunft‘, erhasche ich.
Daheim suche ich nach dem fehlenden Puzzleteil. Ohne Erfolg. Mit der Bergpredigt, der Offenbarung und der Briefe an die Korinther wird es Abend. Das Satzende verschwindet vollends im Dunkel.


Als ich das Buch schließlich zuschlage, meldet sich das Telefon. Es ist weit nach elf. Kein Mensch, den ich kenne, ruft mich um die Zeit an. Kein Mensch! Nicht mal meine unzuverlässige Freundin. Die Stimme am Telefon klingt nach einer Packung Zigaretten. Vor dem Frühstück. Ohne sich mit einem Gruß aufzuhalten, brummt sie: „Sondern auch durch den Trost.“
Verstört reibe ich mir den Schlafsand aus den Ohren. „Wie bitte?“, frage ich dümmlicher als sonst.
„Nicht allein aber seine Ankunft“, wiederholt der fremde Bass, „sondern auch durch den Trost.“

15.05.2014



WICHTIG

Der Fahrer würdigt mich mit keinem Blick. Weil Sonntag ist steige ich vorn ein. Halte mein Ticket hoch. Nichts. Keine Reaktion. Hätte mit einem Gewehr kommen können. Oder mit einem Schwein an der Leine. Der Fahrer hätte mich durchgelassen. Schaut auf sein Handy. Schweigt. Mitte zwanzig. Leicht übergewichtig. Gerötete Wangen. Die Hemdärmel, lässig nach oben gerollt, legen einen satten Bilderreigen frei. Links eine Schlange. Angespannt und um Haltung bemüht. Dazu tänzelnd. Rechts ein Spinnennetz. Gestochen scharf. Jeder Knoten eine Faust. An den Ohren stecken silberne Ringe. Der Kopf glatt rasiert. Nur ein schmaler Haarstreifen. Von der Stirn zum Nacken hin. Wie eine Bremsspur. Dunkel gefärbt.

An jeder Haltestelle, an jeder Ampel, die rot zeigt, schaut der Fahrer auf sein Handy. Tippt. Wartet. Es muss wichtig sein. Ganz wichtig. Vielleicht ist er verliebt. Oder hat sich gerade getrennt. Sieben, acht, neun Stationen geht das so. „Na, endlich“, ruft er plötzlich. Schwingt das Handy ans Ohr. Mit einem Ruck. „Hallöchen, hier ist der Tommy!“

Die Leute im Bus sehen verwundert auf. Fühlen sich angesprochen. „Alles Gute zum Geburtstag!“ Fast küsst der Fahrer das Handy. „Geht’s dir gut? Toll! Was? Pfannuchen. Klar komme ich. Noch zwei Runden. Ich freue mich auch. Super. Du bist die beste Oma der Welt. Bis später.“ 

19.04.2014



PAAR

Seit seiner Scheidung sieht Ralf seine Tochter selten. Wenn sie verliebt ist. Wenn sie sich getrennt hat. Oder an ihrem Geburtstag. Vor ein paar Tagen hatte Sonja Geburtstag. Ralf erinnerte sich an ihren 18. Geburtstag. Damals feierten sie noch in Familie. Wie lange war das her? Genau wusste er es nicht. Was er wusste, war, dass er alt wurde. Und bevor er steinalt wird, wollte er noch rasch seine Geschenke los werden.

Ralf und Sonja saßen in einem Café. Die Kellnerin stand schon eine Weile an ihrem Tisch. Sie lächelte. Ein stumpfes, abwesendes Lächeln. Wie zwei defekte Leuchtdioden flackerten ihre Pupillen. Irrten unruhig hin und her. Von Ralf auf Sonja, dann wieder zurück.
Sie hatten ihre Bestellung abgegeben. Zur Sicherheit, eher aus Unsicherheit, weil die Kellnerin so nah und doch so entfernt war, hatten sie ihre Wünsche wiederholt. Langsam und deutlich. Zum Mitschreiben. Die Kellnerin schrieb nichts mit. Sie stand an ihrem Tisch. Und lächelte ihr verpeiltes Lächeln.

„Is‘ noch was?“, fragte Ralf.

„Ach“, schluchzte die Kellnerin und schickte ihre Pupillen erneut auf Wanderschaft. „Ihr seid so ein schönes Paar.“

13.04.2014




WARTEN


Aus den Lautsprechern tropft Musik. Ziemlich leise. Aufdringlich genug. Vor allem die hellen Töne. Schätze Bach. Kunst der Fuge. Bachs Weste hatte 14 Knöpfe. Vierzehn Punkte sein Monogramm. 14 Kanons seine Goldberg-Variationen. Zweimal die Sieben. Johann Sebastian Bach, der Mathematiker. Der Kreuzweg hatte ebenfalls vierzehn Stationen. Aber das war vor Bach. Einer ist immer vor einem. Schräg vor mir ein Mann. Eingesunken im grünen Ledersessel. Die Fingerspitzen drehen an silbergrauen Bartenden. Ein, zwei Meter neben ihm eine Frau. Brille auf der Nasenspitze. Haare bis über die Schultern. Das Blond ist mindestens so unecht wie die Locken. Die Frau liest Zeitung. Stiert aufs bedruckte Papier. Unbeweglich. Ungerührt. Überlege, was die Frau liest. Tippe auf die Wetterprognose. Oder die Todesanzeigen. Aus dem Labor schlurft eine ältere Frau. Hinter ihr ein rundlicher Assistent. Lange und laut verabschiedet der sich von der Frau. Etwas zu laut. Besser ist besser. Vielleicht sieht man sich das letzte Mal. Man kann nie wissen. Die Frau bleibt stehen. Schüttelt den Kopf. Sie hätte doch gerade Blut abgegeben. „Ich sagte nur“, hebt der junge Mann an, „Sie sollen langsam gehen. Das Taxi kommt gleich.“

Schaue auf die Uhr. Knapp eine Stunde ist rum. Sechzig Minuten, die nie wieder kommen. Was soll’s. Wäre ich nicht hier, wäre ich woanders. Warten würde ich trotzdem.

Der Bartstreichler reißt den Mund auf. Gähnt. Klare Sache. Streicheln ermüdet. Die Zeitungsfrau nimmt die Brille ab. Verstaut die Zeitung. Kramt in ihrer Handtasche. Holt eine Tube raus. Öffnet diese. Drückt weiße Salbe auf ihren linken Handrücken. Schließt die Tube wieder. Verreibt die Salbe. Süßlicher Duft. Vanille. Was Bach als Letztes gesagt hat ist überliefert. „Vor deinem Thron tret ich allein.“ Was er zu Letzt gerochen hat, weiß kein Mensch.

Aus der Ferne eine Stimme. Weit weg. Gedämpft. Klingt wie mein Name. Dann Stille. Dann wieder die Stimme. Es ist mein Name. Die Ärztin steht im Raum. Strahlend weiße Zähne. Gesunde Gesichtsfarbe. Schlank. Drahtig wie eine Turnerin. Seit neun zieht sie sich die Klagen der Patienten rein. Kurz vor achtzehn Uhr macht sie noch immer auf ‚Das Leben ist schön!‘.

„Warten Sie schon lange?“, frage ich.
„Ach was“, sagt sie.

22.03.2014



WIEDERHOLUNG

Auf der Treppe einer Arztpraxis saß ein junger Mann. Bei jedem Wetter sitzt der Mann dort. Er sitzt auf der Treppe und trinkt Bier. Auf der anderen Straßenseite stehen ein paar Bänke. Ab Mittag sitzen da junge Frauen und Männer. Nach der Methadonvergabe in der Praxis ruhen sich die Ex-Junkies auf den Bänken aus. Manche von ihnen dösen vor sich hin. Andere reden über Gott und dem Teufel. Die, die reden geraten manchmal in Streit. Dann wird es rasch laut. Die Fetzen fliegen. Doch die Fäuste verfehlen meist ihr Ziel. Wenn einer von ihnen zum Fußtritt ausholt, verliert der das Gleichgewicht. Und wenn eine Streife um die Ecke zuckelt, fallen sich alle wieder um den Hals.

Der junge Mann beobachtet die Szenerie. Jeden Tag. Er nippt an seiner Flasche und schaut. Einige der Leute scheint er zu kennen. Ab und an nickt er, brummelt vor sich hin. Beim Sprechen zittert seine Unterlippe.

Heute setzte sich eine Frau zu ihm. Auch die Frau hält sich gern in der Gegend auf. Ihre weißen Haare sind immer mit einem Gummiband zusammen gebunden.

„Wie geht’s?“, fragte der junge Mann ohne seinen Blick von der anderen Straßenseite zu wenden.
„Wie schon“, antwortete die Frau müde. „Beschissen.“
„Nicht besser?“
„Nicht besser. Wie auch. Ich geh ja nicht zum Arzt.“
„Wie ich“, triumphierte der Mann. „Ich geh auch nicht zum Arzt. Und mir geht es hervorragend.“

Die Frau starrte nach unten. Das rissige Leder ihrer Schuhe erinnerte an die Haut eines Tieres. Oder eines alten Menschen. „Schön für dich“, sagte sie. „Schön.“
Der junge Mann drehte sich der Frau zu. „Klar, Mann“, sagte er und hob seine Bierflasche in die Luft. In der Sonne glänzte die Flasche wie ein Pokal. „Wegen meiner Sache gehe ich auch nicht zum Arzt. Und weißt du warum?“
Die Frau schwieg.
„Der sagt eh dasselbe“, beantwortete der Mann seine Frage. „Ständig wiederholt der sich.“
Die Frau hustete und stand auf. „Ich muss los“, sagte sie und spuckte. Knapp neben ihren Schuhspitzen landete der rötliche Auswurf. Der junge Mann trank einen Schluck. „Kopf hoch“, sagte er. „Uns kriegen die nicht.“ Dann schaute er wieder zu den Bänken.

16.03.2014


 UNTERSTÜTZUNG

Umringt von Menschen, die ich nicht kannte, stand ich auf dem Bahnsteig und wartete auf den Zug. Ein Mann fiel mir auf. Unrasiert, geflickte Jacke, speckige Hose. Wie er rumlief, konnte der sich nie im Leben eine Fahrt mit dem ICE leisten. Und dass er auf Freunde oder Bekannte wartete, schloss ich gleichfalls aus. Mit kleinen Schritten lief der Mann umher und sprach die Leute an. Als er schließlich vor mir stand, schnitt ich ihm nach dem dritten Wort den Satz ab. „Hätten Sie vielleicht –.“ Mehr ließ ich nicht zu. Mehr brauchte ich nicht zu hören. Ich wusste, was der Mann auf Lager hatte. Schlimme Kindheit und verlorene Fahrkarte. Oder verlorene Kindheit und schlimme Fahrkarte. So oder so. Das heutige Betteln ist durchsichtig wie ein Freitagabendkrimi.

Angewidert donnerte ich dem Mann ein „Nein“ entgegen. „Schade“, meinte darauf der Mann, tippelte weiter und kassierte kräftig ab. Statt der erhofften Spende heimste er einsilbige Absagen und eindeutige Schimpfworte ein. Doch der Mann blieb hartnäckig. Ungerührt drehte er seine Runden, als würden ihm die Ablehnungen glücklich machen. Nach einer Weile steuerte er wieder meine Umlaufbahn an. Vor einer älteren Frau, die keine zwei Meter von mir entfernt stand, blieb er stehen. Auch jetzt wusste ich, was kommen würde. Gleich würde die Frau ihre Handtasche zücken und eine Münze rausholen.

„Hätten Sie vielleicht“, begann der Mann.
Ich verdrehte die Augen. Allmählich quietschte die Leier.
„Hätten Sie vielleicht Bedarf an einer kleinen Unterstützung?“
„Kommt darauf an“, druckste die Frau und nestelte an ihrer Handtasche. Währenddessen wanderte die rechte Hand des Mannes in seine Jacke. Als die Frau sah, was der Mann zum Vorschein brachte, trat sie einen Schritt zurück. „Ich bitte Sie“, sagte sie abwehrend. „Nein, ich bitte Sie!“
„Ist mir ein Vergnügen“, sagte der Mann. „Ist mir wirklich ein Vergnügen“, wiederholte er, beugte sich nach vorn und gab der Frau einen Hunderteuroschein

08.03.2014



BEGEGNUNG


Die Firma lud zum Arbeitsessen. Es wurde wirklich ein Arbeitsessen. Ich atmete nur, wenn ich unbedingt musste. Die Luft in dem rustikalen Lokal der Landeshauptstadt legte alles lahm. Bei der Mischung aus deftigen Schweineschultern und mit Speck gefüllten Klößen hätte jeder Anästhesist in die Hände geklatscht. Dafür gaben sich meine Salatblätter holzig und zäh wie die Restbestände eines ausrangierten Küchenregals.

Derart in die Arbeit vertieft, bemerkte ich erst spät, dass eine Frau an meinem Tisch stand. Die Frau war weiß geschminkt. Nur der schmale Mund glänzte gefährlich rot. Ihren Körper hatte die Frau in ein leichentuchähnliches Kleid gezwängt. Die spärlichen Rundungen wurden dadurch nicht üppiger. Ab und an fächelte sie sich ein Häppchen der fettigen Luft zu.

„Schau!“, rief die Frau bewundernd, „welch feine Perücke Er doch auf seinem Kopfe trägt.“ Die Stimme der Frau klang schrill. Eine ihrer behandschuhten Hände fuhr mir prüfend durchs Haar. „Sieh an, es ist, so will ich meinen, erstaunlich echt. Das wallend Haar des Herrn mit dem ernsten Gesichte ist echt. Ach was schaut Er auch finster drein?! Plagt Ihn die Infanterie von General Zahn-Teufel? Oder gar, welch Drama, wenn‘s denn wahr, Ihn mundet nicht die satte Tafel samt Speis und Trank.“

Die Kollegen johlten. Gläser wurden erhoben. Auf was man anstieß, bekam ich nicht mit. Wie vom Blitz getroffen schrumpfte ich zusammen. Ein Häufchen Elend war eine blühende Festwiese gegen mich. Mit Verwandlungen dieser Art bin ich groß geworden. Bereits als Kind spülte mich der eigene Schweiß fort, rief mich der Weihnachtsmann zu sich. Oder wenn mich eine Tante mit ihrer launigen Bemerkung in den Mittelpunkt der Familienfeier schob. In den Erdboden versinken. Unsichtbar werden. Dies alles waren zulässige Optionen um dem Treiben der dritten Art aus dem Weg zu gehen.

„Entspann Er sich“, sagte die Frau. „Wie steif Er auf seinem Schemel hockt und an seinem Grünzeugs knabbert. Esse Er was Richtiges, rat ich Ihm. Essen sei, nach des Pöbels Mund, die Wollust des Alters. Wohlan, der Herr. Esse Er was Richtiges!“

Die Frau, die da zu mir sprach, war Gräfin Cosel. Geschichtlich auf der Höhe jener Zeit hatte ich sie gleich erkannt. Einst war sie die beliebteste Mätresse von August, dem starken Landesfürsten. Nachdem sie August zunächst bestens unterhielt, wurde sie auf die kühle Burg von Stolpen verbannt. Nun also machte sie erneut als Unterhalterin die Gegend unsicher. Scheinbar musste sie sich die Rente aufbessern. Und wenn schon. Das war gar keine so schlechte Idee. Nach dem Abend würde ich, so viel stand fest, für das Arbeitsessen Erschwerniszulage einfordern.

01.03.2014

 



PROBLEM

Bitte geben Sie Ihre Kennzahl ein.

Zum  dritten Mal tippte ich meine vierstellige Ziffer ein. Und es geschah nichts. Der Bildschirm ignorierte die Offenlegung meiner Daten. Stattdessen bat er erneut um meine Kennzahl.

Ich drehte mich um. Hinter mir hatte sich eine überschaubare Schlange gebildet. Ein älteres Paar blätterte in einem dicken Gartenbuch. Zwei Studenten checkten ihre neuesten Nachrichten. Und junge Mamas und Papas freuten sich überschwänglich über ihre Kinder, die derart viele Bücher ausgesucht hatten. „Da kann wohl der Fernseher jetzt auch mal Ferien machen?“, fragte eine Mutter ihre Tochter. „Du weißt schon“, protestierte das Mädchen aufgekratzt, „dass ich am liebsten vor dem Fernseher lese?!“

Keiner der wartenden Leute trieb mich an. Keiner deutete auf die Uhr. Mit etwas Mut hätte ich ihre Geduld testen können. Wann würde ihnen der Faden reißen? Und wann würde man mir in die Parade fahren und mich dabei zur Seite schieben?

„Immer mit der Ruhe“, sagte eine junge Frau, die scheinbar alle Zeit der Welt hatte. Doch ihr Bekenntnis galt nicht mir. Neben ihr stand ihr Freund und fummelte an ihrer Halskette.

Ich nahm Haltung an. Zärtlich strich ich über das Buchungsgerät und gab meine geheimen Ziffern ein. Nichts passierte. Ich wiederholte den Vorgang. Diesmal ohne Streicheleinheit. Nichts. Entgeistert sah ich auf meine Bücherausbeute. War sie der Grund, dass die Technik streikte? Walter Nigg ‚Große Heilige‘. Epiktet ‚Handbüchlein der Moral‘. Und Karl Poppers Essayband über Geschichte und Politik. Sicher, das war starker Tobak. Und selbst verschuldet. Zum Jahreswechsel hatte ich einer Bekannten gegenüber leichtfertig geprahlt, im neuen Jahr weniger Krimis zu lesen. Ich sei jetzt erwachsen, behauptete ich. Also sollte Gehaltvolleres auf meinen Tisch landen. Und Ende Februar war es an der Zeit, mein Vorhaben umzusetzen.

Das Buch von Karl Popper lag obenauf. Der verklärte Blick des älteren Herrn sah vom Schutzumschlag an mir vorbei. Ohne auch nur eine Zeile in seinem Buch gelesen zu haben, dem Mann konnte ich nur zustimmen. ‚Alles Leben ist Problemlösen‘, hieß sein Buch.
Ich klemmte den Stapel unter und ging zum Tresen. Für Menschen mit einem Problemhintergrund übernahm das Scannen hier eine Studentin, die später Bibliothekarin werden wollte. Später würden zwar sämtliche Büchereien ganz ohne Bibliothekare auskommen, aber das konnte die Studentin noch nicht wissen. „Junger Mann“, sagte sie ohne rot zu werden, „Ihre Jahresgebühr ist fällig.“

28.02.2014
 



PUCK

„Das geht mir zu schnell“, beklagte sich Nele. „Ich kann den Ball gar nicht sehen.“

Wenn meine Nachbarin von einem neuen Verehrer besucht wird, schickt sie gern ihre Tochter zu mir rüber. Die sehen alle gleich aus. Die Verehrer. Dennoch kommen ständig andere. Meistens abends. Ich lese dann Nele gern ein paar Geschichten vor. Bis einer von uns einschläft. Oder wir schauen uns gemeinsam einen Trickfilm an. Da ist der Kampf, wer zuerst einschläft, bereits nach dem Vorspann entschieden. Letzten Samstag sahen wir Olympia. Eishockey. Den Klassiker überhaupt: Russland gegen USA.

„Das ist kein Ball“, belehrte ich das Mädchen. „Das ist ein Puck.“
„Ich kann den trotzdem nicht sehen“, nörgelte Nele.
„Dann setz deine Brille auf.“
„Brillen sind doof.“
„Finde ich nicht.“
„Doch. Da sehe ich aus wie du.“
„Und? Ist das so schlimm?“
„Nee. Nur doof.“

Es gibt Gespräche, die führen ins Nichts. Und das letzte Wort hat stets der, der nach einem spricht. Ich konzentrierte mich auf das Spiel. Die Oshies und Dazjuks kurvten, was das Zeug hielt. Und die Pässe, die sie mit ihren Kellen zauberten, kamen alle aus dem Lehrbuch.

„Das ist so langweilig“, stöhnte Nele und verlor dabei einige Fetzen der Gummibärchen, mit denen sie sich hoffnungslos zu betäuben versuchte. „Ständig spucken die. Und was die Männer anhaben!“

In Sotschi spielten auch Frauen Eishockey. Das war wie Frauenboxen. Mit Handschuhen. Aber ohne Helm. Wem das gefällt, soll sich das ansehen. Doch mit einem Mädchen im Vorschulalter Eishockey anzuschauen, das war einfach keine gute Idee.

„Bitte“, sagte ich und vergaß für einen Moment, was ich sagen wollte. Einer der Schiedsrichter war gerade in eine Kabine gerast und beratschlagte sich mit einem Kollegen, der das Spiel an einem Monitor verfolgte. War der Puck nun im Gehäuse der Amis? Oder nicht. War drin, entschied der Unparteiische, zählt aber nicht. Das Tor war verrutscht. Einer der Pfosten hatte sich aus dem Eis gelöst. Und erneut stand es unentschieden.
„Tu mir einen Gefallen“, sagte ich schließlich zu Nele. „Halt einfach die Klappe. Okay? Noch ein paar Minuten. Und dann gibt’s Frau Holle und Das kalte Herz. Meinetwegen im Doppelpack. Abgemacht?“
Nele, die auf dem Fußboden lümmelte, biss einem grünen Gummibärchen den Kopf ab und zerquetschte den Rest zwischen Daumen und Zeigefinger. Das macht sie immer, wenn ihr was nicht passt. „Die sollten besser mit einem Ball spielen“, stellte Nele nüchtern fest. „Dann müssten die nicht so einer blöden Scheibe nachlaufen. Mit einem Ball könnten die auf einer Wiese spielen. Und ich könnte den Ball wenigstens sehen.“

17.02.2014



STAU

Als ich endlich im Taxi saß, atmete ich erleichtert auf. Nach einem Zwölfstundentag mit diversen Beratungen und Telefonkonferenzen und einer Fahrt in einem überhitzten Waggon wollte ich jetzt nur noch ins Hotel. Dann unter die Dusche und ab ins Bett. Der morgige Tag würde stressig genug werden. Allein der Titel des Kongresses war Warnung genug.
‚Transportunternehmen in Zeiten von Steuerhinterziehung‘.

Ich lehnte mich also zurück und sah aus dem Fenster. Vielleicht sollte ich die Dusche weglassen und gleich ins Bett gehen. Wen juckt das? Die Untermieter in dem fremden Bett hätten sicher nichts dagegen.

Das Auto bewegte sich kaum. Hin und wieder schaukelte es unschlüssig. Schließlich blieb es stehen. Wir waren gestrandet. In einem Meer farbenfroher Autos steckten wir fest und warteten auf Ostwind. Nur der Taxameter lief erbarmungslos.
„Kann man nichts machen“, sagte der Fahrer nach gefühlten drei Stunden. „Um die Zeit fährt man besser mit der Bahn. Oder man läuft.“

Laufen? Der Kerl machte mir Spaß. Ein richtiger Scherzkeks. Der Kragen seines Jacketts war voll weißer Krümel. Der Kerl war ein trockener Scherzkeks. Laufen. Wie stellte der sich das vor? Die Stadt war riesig. Schon der Stadtplan, den ich mir gekauft hatte, hätte locker als Teppich durchgehen können. Um eine der Straßen zu überqueren, ging sicher ein halber Tag drauf. Und ans Ziel würde ich trotzdem nicht kommen.
„Keine zehn Minuten zu Fuß“, schob der Fahrer nach. „Aber was soll‘s. Dafür hatten Sie hoffentlich einen entspannten Tag.“

09.02.2014




VERWECHSLUNG

Ab und an kaufe ich mir ein Nachrichtenmagazin. Als ich gestern das Geschäft an der Ecke betrat, fiel mir der Verkäufer auf. Der ist neu, stellte ich fest. Zumindest hatte ich den hier noch nicht gesehen. Der Mann trug ein rotes Jackett, darunter ein knallgelbes Hemd. Im linken Ohr blinkte ein goldenes Sternchen, am rechten Handgelenk baumelte lasziv ein Kettchen. Als ich meine Zeitschrift auf den Tisch legte und nach dem Geld griff, fragte der Verkäufer: „Nehmen wir heute noch die ‚St. Pauli Nachrichten‘ mit?!“

Ich war leicht verwirrt. Aber nur leicht. Sehe ich so aus, als ob ich mir so ein Schmierenblatt kaufe?, fragte ich mich. Bestimmt verwechselt mich der Typ.

„Oder doch lieber die ‚Praline‘“, schob der Verkäufer süffisant nach und strich sich durch das gefärbte Haar. „Die Winterabende sind ja so lang.“
Ich zahlte und klemmte mir die Zeitschrift untern Arm. Der Typ nervte. 
„Auf einem Bein steht man schlecht“, zischte der Verkäufer.

Der Kerl verwechselt mich, sprach ich zu mir. Der Kerl verwechselt mich.
Auf dem Weg zur Bahn sahen mich die Leute an. Die einen staunten, die anderen kicherten verlegen oder tuschelten. Seit Gründung des Buchdrucks war ich mit Sicherheit der erste, der in der Gegend mit einem Nachrichtenmagazin umher lief. Der Stolz puschte meinen Adrenalinhaushalt auf. Selig pfiff ich vor mich hin und hüpfte über graue Schneereste.

In der Bahn warf ich dann einen Blick in die Zeitschrift. Bestens gepolsterte Frauen rekelten sich auf polierten Motorhauben oder abgewetzten Kanapees. Bei den Frauen war der Winter schon vorbei, sie waren nackt. In der Mitte des Heftes überraschte ein Foto, das so groß war wie Badehandtuch. Die Blondine, die abgebildet war, hatte ihre Beine, ihre Arme und den makel- wie narbenlosen Rest mit einem Liter Sonnenöl eingeschmiert. Nun lag die Dame müde und erschöpft im Gras und schien auf ihren Prinzen oder auf die Gage zu warten. Die wenigen Texte in der Zeitschrift waren ebenso anregend und offen. Es ging um den G Punkt bei Männern mit fortschreitendem Haarausfall. Und es ging um die Pille für zwischendurch.

Der Laden hatte nicht nur einen neuen Verkäufer. Die hatten auch umgeräumt. Statt dem Nachrichtenmagazin hatte ich mir den ‚Playboy‘ geschnappt.

26.01.2014
 


 

HOSENKAUF

In einem Kaufhaus. Ein älteres Paar schlendert durch die Herrenabteilung. Der Mann macht ein Gesicht, als käme er gerade von einer Wurzelbehandlung. Dafür bewegt sich die Frau wie auf einem Marktplatz. Neugierig erkundet sie jeden Winkel, hebt die unterschiedlichsten Hosen in die Höhe und betastet und beschnuppert die Stoffe.
„Neue Hose“, brummt der Mann gelangweilt. „Ich höre immer neue Hose. Ich habe doch eine!“
„Eben“, entgegnet die Frau. „Eine.“
„Ich werde nächstes Jahr -“
„Deine Größe?!“
„Ich meine, vielleicht lohnt sich der Kauf gar nicht mehr.“
„Die Größe!“
„Eins zweiundsiebzig.“
„Joachim, deine Hosengröße?! Die Weite und so. Deine Körperlänge interessiert jetzt keinen.“
„170 zu 74.“
„Unsinn, das ist dein Blutdruck.“
„Dann weiß ich auch nicht.“
„Und wie sollen wir dann eine Hose für dich kaufen?“
„Du willst eine Hose für mich kaufen.“
„Dieser Mann“, ruft die Frau, „nur gut, dass ich auf deine Heiratsanträge nie eingegangen bin.“ Sie hebt seine Jacke an und greift ihm von hinten in die Hose.
Der Mann schreckt kurz zusammen. „Was wird das denn?“, protestiert er kleinlaut.
„Deine Größe. Ich suche dieses blöde Schildchen mit den Angaben.“
„Muss das sein?“, fragt er.
„Wir haben es gleich geschafft“, sagt die Frau wie eine Zahnärztin, die ihren Patienten tröstet. Dabei lässt sie ihre Hand noch tiefer in die Hose wandern und schaut aufmerksam in den kleinen Spalt zwischen Hosenbund und Becken.
„Jetzt mach schon. Die Leute gucken schon.“
„Hier. 34 und 31.“ Die Frau schiebt ihm das Hemd wieder in die Hose und gibt ihm einen sanften Klaps auf sein Gesäß. „Du bist zwar ganz schön in die Breite gegangen“, sagt sie. „Aber dein Hintern, also der ist immer noch süß.“

03.01.2014

 



NEBENJOB


Glühwein- und Bratwurstwolken kämpften um die Vorherrschaft. Doch die Leute auf dem Markt berührte das wenig. Sie futterten und tranken, als wollten sie sich für das Fest der Liebe noch rasch mästen. Erwin stand etwas abseits. Belustigt schaute er dem Treiben zu. Seine Frau war in ein Kaufhaus verschwunden. Oder geflüchtet. „Nur mal schauen“, hatte sie gesagt. „Bin gleich wieder das.“

Seit einer halben Stunde lehnte Erwin nun an einem transportablen Toilettenhäuschen und rauchte.

Bei dem ersten Euro hatte er sich noch gewehrt. „Danke“, hatte er protestiert und auf seine Hand gestarrt. „Aber …“
Der Mann, von dem das Geld kam, lächelte. „Nichts zu danken!“
So ging das weiter. Frauen links. Männer rechts. Die Frauen zauberten das Kleingeld aus ihren Handtaschen. Die Männer dagegen zauberten nicht. Sie hielten die Münzen bereits in der Hand und eilten vorbei.

Inzwischen hatte Erwin mehr als zehn Euro eingenommen. Und er hatte seinen Frieden gemacht. Schließlich war Weihnachten ein teures Vergnügen. Allein die beiden Enkel. Modebewusste Teenager mit klarer Ansage. Und einem Hang zur Extravaganz.

In dem Augenblick hörte Erwin neben sich eine Stimme. „So einen Nebenjob hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut“, sagte die Stimme. Sie gehörte Schultze, dem fülligen Kollegen aus der Nachbarabteilung. Mit einem vertraulichen Das-bleibt-unter-uns-Blick steckte dieser Erwin zwei Münzen in die Tasche. „Klar“, versicherte der Kollege, „man muss halt sehen, wo man bleibt.“

17.12.2013


 


KLEINGELD

„Achtzehn Euro einundzwanzig“, sagt die Kassiererin.
Ich spähe in mein Portemonnaie, zücke einen zwanzig Euroschein.
„Haben Sie vielleicht was Kleines?“, fragt die Kassiererin. „Kann ruhig ganz klein sein.“ Während ich noch überlege, wie sich ‚ganz klein‘ weiter verkleinern lässt, beugt sich die Frau schon über meine Geldbörse und fischt nach einigen Centstücke.

Solche Szenen kennt jeder. Bei alten Männern mit Gehstock, aber ohne Lesebrille helfen flinke Kassiererinnenfinger ganz gern mal nach. Geduld gehört selten zum Angebot eines Supermarktes. Wurde ich bisher Zeuge derartiger Unterstützung, schmunzelte ich gelassen. Bis ich auf solche Hilfe angewiesen bin, bezahlt man nur noch mit Karte.

„Wunderbar“, sagt die Kassiererin, als hätte sie einen Goldbarren entdeckt. „Und Sie? Sie haben alles gefunden?!“
Schweigend nehme ich das Wechselgeld entgegen, schiebe meinen Wagen zum Ausgang. „Scheiße“, brummele ich. „Und ob ich alles gefunden habe. Der alte Mann bin ich.“

07.12.2013
 


 

HANDSCHUH

Nachmittag gegen fünf. Es ist finster. Vor mir zwei Frauen. Sie reden laut. Verstehe kein Wort. Meine Russischkenntnisse halten sich in Grenzen. Über die ich nie hinausgekommen bin. 
Ein paar Meter vor uns ein paar Männer. Trinken Bier. Trotz Kälte. Nichts auf dem Kopf. Weder Mütze, noch Haare. Scheiße, denke ich. Gleich werden die Glatzen stänkern. „Ausländer raus!“ Oder so. Ich drücke das Kreuz durch. Was ein Witz ist. Da gibt’s nichts zu drücken. Besser ein Zitat. Aus der Bergpredigt. Oder aus dem Grundgesetz.  

Eine der Frauen verliert einen Handschuh. Die Frau merkt nichts. Läuft weiter. Auch ich laufe weiter. Entscheide mich gegen das Berggesetz. Gegen die Grundpredigt. Klappe halten. Nur wer sich nicht einmischt, bekommt keine gewischt.
„Schöne Frau“, ruft einer der Glatzköpfe. „Ihr Handschuh!“

Die Frau bleibt stehen. Dreht sich um. Bückt sich. Feuert Dankesworte durch den Abend.
Glatzkopf winkt getroffen ab. Sagt: „Wird sonst kalt an die Finger!“

04.12.2013

 



FILMREIF

Nach dem Mittagessen geht Herbert gern an die frische Luft. Er läuft durch das Viertel, raucht und trinkt beim Bäcker an der Ecke einen Kaffee. Das macht er jeden Tag. Zumindest seit er in Rente ist. Seine Frau räumt in der Zwischenzeit auf, schaut nebenbei fern. Meist eine Folge jener Serien, deren erste Sendung man schwarzweiß und als Kind verfolgt hat. Das ganze Fernsehleben hatte man da noch vor sich.

Als Herbert gestern aus der Haustür trat, kam er nicht weit. Schon an der Kreuzung stoppten ihn Schaulustige und diverse Hinweisschilder. Um ein zerbeultes Auto waren baumgroße Scheinwerfer aufgebaut. Dick eingepackte Menschen liefen umher. Alle taten so, als würde in der nächsten Stunde über ihre Beförderung entschieden. Einer rief: „Ruhe!“ Und: „Film ab!“ Zunächst passierte nichts. Schließlich stieg ein Mann aus dem Auto. Der Mann war schlank, nicht besonders groß, die wenigen Haare kurz. Trotzdem hatte der Mann etwas an sich. Etwas Magisches. Herbert kannte den Mann aus dem Fernsehen. Diese Art zu lächeln. Allein die war oscarverdächtig. Der Mann war einer der ganz Großen. Herbert überlegte. Al Pacino? Robert de Niro? Nein. Der Mann, der da gerade aus dem Auto kletterte und nun die Motorhaube öffnete, war... Natürlich! Klar! Herbert hustete aufgeregt. „Das ist doch der“, sprudelte es aus ihm heraus.

„Der was?“, brummte ein Mann, der neben Herbert stand.
„Na der Bruce -.“
„Hättest du gern, was?“, unterbrach ihn der Mann und verzog das Gesicht, als hätte er den Mund voller Weisheitszähne. „Ist der Schüssler. Der Möchte-gern-Bruce-Willis. Dabei war der Mario Schüssler früher gar nicht mal übel. Hat sogar in einem Polizeiruf gespielt.“
„Und Schluss!“, rief der Ruhe- und Film-ab-Rufer. „Danke!“
„Jetzt aber“, sagte der Mann neben Herbert, „jetzt ist der richtig weichgespült. Eine Seifenoper nach der anderen. Schrecklich.“ 

01.12.2013
 



STREIKBRECHER

Technik begeistert. Vor allem wenn sie einem Wege erspart. Wege, die so gefürchtet und notwendig sind. Wie der Gang zum Zahnarzt.

Die Wetterstation zum Beispiel.

Also nicht die, mit der sich früher dieser schlecht rasierte Herr aus dem warmen Studio gern verbinden ließ. Man sah dann einen Mann auf einer Anhöhe stehen. Der Mann hielt ein mit Fell überzogenes Mikrofon in der Hand und erzählte irgendwas von Tief Regina.
Ich meine jene Wetterstation, die in jedem gut sortierten Haushalt anzutreffen ist. Dieses Wunder der Technik vereint auf ihrem handlichen Bildschirm gleich eine Handvoll Daten: die Raumtemperatur, das Datum, die Uhrzeit, die Außentemperatur und die Luftfeuchtigkeit. Der Vorteil von diesem Gerät liegt auf der Hand. Bzw. steht im Zimmer. Um zu prüfen, ob man sich heute lieber einen Schal um den Hals legt, bedarf es nicht mehr den tollkühnen Gang auf den Balkon, um dem dortigen Thermometer die Antwort zu entnehmen. Man bleibt am Küchentisch sitzen, schenkt sich eine zweite Tasse Kaffee nach und streift mit prüfendem Blick die im Zimmer stehende Station.

Dumm nur, wenn das Gerät streikt. Wenn die Batterien leer sind. Oder wenn die Kontakte im Inneren des Gehäuses, weil verrostet, nicht mehr kontakten. Kurz: Wenn die Temperaturanzeige ausbleibt.

Also wechselte ich die Batterien, reinigte die Kontaktstellen.
Es half nichts. Trotz meines handwerklichen Großeinsatzes pochte das Außengerät weiterhin auf sein Streikrecht. Es verweigerte seine Arbeit. Und sendete keine Signale mehr. Ich montierte das Gerät ab und – Demokratie hin oder her – verbannte es in den Schrank. „Draußen ist November“, brummelte ich, „was brauche ich da zu wissen, wie das Wetter ist? Es ist November. Das allein reicht als Dicke-Jacke-Barometer.“

Deshalb staunte ich nicht schlecht, als mir die Station gestern die Außentemperatur mitteilte. Ungefragt und aus grau verschleierten Himmel. Trotz fehlendem Sensor waren es laut Anzeige zwei Grad.

Wie das? Litt die Wetterstation an Phantomschmerz? Oder fungierte von einem Nachbarbalkon ein fremder Sensor als Streikbrecher?  

20.11.2013

 



VERSUCH

Gediegen. Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein. Erik saß im Warteraum der Anwaltskanzlei. Die Wände waren holzgetäfelt. Das Muster, das im Teppich gewebt war, erinnerte an eine Sonne. Oder an einen Wasserkopf. Von der Decke hing ein Leuchter, für den die Putzkraft sicher einen Monat brauchte. Als sich Erik in einen der schwarzen Ledersessel setzte, versank er förmlich darin. Gediegen. Nur der Fernseher, der etwas verloren in dem Raum stand, war fehl am Platz. Er passte nicht in das Ambiente. Kein vernünftiger Mensch würde in diesem Raum fernsehen. Erik überlegte. Vielleicht war das Gerät eine Attrappe oder hatte eine ganz andere Aufgabe.

Einige Meter von Erik entfernt saß seine Frau. Mit ihrer roten Lederjacke, den lackierten Fingernägeln und der Designerbrille wirkte sie fremd, wie eine andere Frau. Erik lächelte. Sie war fremd, sie war eine andere Frau. Sie war seine Nochfrau.
Der Anwalt hätte noch einen wichtigen Termin, hatte die Sekretärin gesäuselt. Sie sollten bitte einen Moment Platz nehmen.

Eine halbe Stunde dauerte inzwischen dieser Moment. Seit dreißig Minuten saß Erik und schwieg. Auch seine Baldexehefrau sagte nichts. Beide waren in die Kanzlei gebeten worden, um eine letzte Unterschrift zu leisten. Es ging um einen Eintrag im Grundbuch. Eine Löschung. Um eine Bewilligung einer Löschung. Oder so ähnlich. Dabei war alles geklärt. Alles besprochen. Wie schon vor Jahren alles geklärt, wie schon vor Jahren alles besprochen war.

Erik schreckte auf. Der Anwalt stand in der Tür. Der Mann lächelte, als wollte er die Lottozahlen verkünden. „Also gut“, sagte er stattdessen. Er sprach leise, aus der Tiefe seines Baritons schwang sein norddeutscher Dialekt mit. „Es war ein Versuch. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Diese Unterschrift besiegelt quasi alles. Deshalb geben wir unseren geschätzten Mandanten immer noch ein wenig Zeit.“
Der Anwalt war in das Zimmer getreten und hatte neben dem Fernseher halt gemacht.
„Wer aber“, sprach der Mann weiter, „wer eine halbe Stunde hier sitzt und kein Wort miteinander wechselt, der hat sich seine Unterschrift überlegt. Wenn die Herrschaften mir bitte folgen würden.“

19.10.2013

 




MÜDE

Es ist früh am Morgen. Kurz vor sieben. Die halbe Stadt ist auf den Beinen. Die andere Hälfte lacht ins Kissen. Und dreht sich nochmal rum. In der Bahn herrscht Hochbetrieb. Alle Sitzplätze sind belegt. Aufgedrehte Kinder und pinkfarbene Schultaschen blockieren jeden Zentimeter. Ich stehe im Gang. Neben mir eine Frau. Sie ist blass. Ihr Blick schläfrig. Selbst die Haare wirken müde. Zunächst schnalzt sie mit der Zunge. Dann summt sie. Mmh ♪ Mmmmh ♪ Mmh. Schließlich beginnt sie zu singen. ♫ ♫. Leise, rau und schräg.
‚Sie war schön‘, heißt es in einem Buch von P. O. Enquist. ‚Sie war auch eifersüchtig: Wenn er mit anderen Frauen sprach, sang sie böse.‘

13.10.2013

 




BRUCH

Auffallend träge läuft das Wasser aus der Leitung. Daraufhin tropft es unschlüssig, später kommt gar nichts mehr. Ein kurzes, aufbäumendes Röcheln, dann schweigt der Wasserhahn. Auch der im Bad sagt keinen Ton mehr. Rächt sich etwa eine der vielen Rechnungen, die ich eisern ignoriere?

Von der Straße her dröhnt es. Ein schwerfälliges Rattern. Ich stocke. Gut, ich wohne sicher nicht im nobelsten Viertel der Stadt. Aber wozu gleich Panzer? Es sind Baufahrzeuge, die unter dem Fenster patrollieren. Ein kleinwüchsiger Bagger, ein halber LKW. Mehr traut man dem Rohrbruch nicht zu. Mitten auf die überschwemmten Straße platzieren Männer in blauen Anzügen einen dickbäuchigen Wasserkessel. Sinnigerweise ebenfalls blau gefärbt.

Skeptisch schauen die Leute aus den Fenstern. Wird nicht lange dauern, sagen deren Gesichter. Dann geht’s in die Wanne. Schließlich ist Samstag. Und Samstag ist Badetag. Das war früher schon so!
Dann dauert es doch länger. Nach und nach trifft man sich vor dem Haus. Jeder bringt was mit. Die einen einen Eimer, die anderen einen großen Topf. Artig stellt man sich in die Reihe. Wenn man dran ist, zapft man sich etwas vom notwendigen Nass ab. Für die Katzenwäsche oder für den durstigen Hund. Die Mieter, die man nicht auf der Straße sieht, sind rasch ausgemacht. Das sind die, die verreist sind oder die, die sich abends ungern waschen. Oder es sind die Weitsichtmerker. Die haben das alles kommen sehen. Und die haben vorgesorgt. Hundert Büchsen Kochfleisch im Regal. Eine Kiste Milchschnitten im Schrank. Der volle Wasserkanister in der Abstellkammer.

Neben mir steht eine Frau. Sie ist kleiner als ich. Ihr Scheitel zieht sich wie eine mehlweiße Linie durch ihr Haar. „Die Wohnung ohne Wasser“, sagt die Frau. „Das ist als wenn das eigene Kind flügge wird. Erst, wenn es weg ist, merken Sie, dass es fehlt, dass Sie es gerade jetzt unbedingt brauchen.“

01.10.2013

 




KIND

Seit einiger Zeit mahnt mich vom Bildschirm der Geldautomaten eine Frau mit den Worten: „Kind, denk an deine Zukunft.“
Als ich der Frau das erste Mal begegnete, dachte ich, vor dem falschen Automaten zu stehen. Statt der gewünschten Geldscheine würde das Gerät Spielgeld ausspucken. Doch ich stand richtig. Zumindest bekam ich mit dem Geld viele schöne Sachen. Der Ärger hielt sich in Grenzen. Er versuchte es nicht einmal, diese zu passieren.
Also dachte ich, dass was mit meiner Karte nicht stimmt. Vielleicht hatte ich ein falsches Geburtsdatum hinterlegt, deshalb spricht mich die Bildschirmfrau so komisch an. Zahlen waren noch nie meine Stärke. Und Geburtstage sind meine Schwäche.
 

Die freundliche Mitarbeiterin meiner Hausfiliale ließ sich nicht lange betteln. Sie sah in den Unterlagen nach und fand mich. Also nicht mich, ich stand ja vor ihr. Was sie fand, waren meine Daten. Es sei alles in bester Ordnung, sagte sie und schenkte mir ein Sie-könnten-auch-mal-wieder-zum-Friseur-gehen-Lächeln.
„Und die Frau auf dem Bildschirm?“, bohrte ich.
Das Gesicht der Angestellten verfärbte sich. Die Wangen glühten und die Stirn wurde zum Feuerball. Wenn Tomaten so rasch zu ihrer Farbe kommen würden, könnte man sich all die Chemie schenken. Ängstlich blickte die Frau um sich. Kurz, sie schien meine Frage in den falschen Hals bekommen zu haben. Wer weiß, was sie unter ‚Frau auf dem Bildschirm‘ verstand. Ich rechnete mit dem Schlimmsten. Der Sicherheitsmann schulterte bestimmt schon das Gewehr. Und die Nacht würde ich in einer Zelle verbringen. Als sich nichts tat, beugte sich die Frau ganz vorsichtig zu mir rüber. „Das ist meine Chefin“, sagte die Frau so leise, dass ich meine Ohren freilegen musste. „Die hat Stress mit ihrer Tochter. Pubertät, Sie wissen schon. Ständig Partys. Ständig neue Jungs. Und ihr Taschengeld landet erst gar nicht in der Tasche. Immer nach dem Motto: Ich habe viel Geld. Was kostet die Welt?! Da hat meine Chefin zum letzten Mittel gegriffen.“
Beim Reden hatte das Gesicht der Angestellten wieder ihre ursprüngliche Farbe angenommen. Entspannt widmete sich die Frau dem Börsengeschehen auf ihrem Rechner und sagte: „Ich bin ganz Ihrer Meinung. Damit verfehlt sie die gestrige Notierung um zwei Punkte!“

27.09.2013

 




KANZLER

Vor vier Jahren fand die Wahl zum Bundestag am 27.09. statt. Einen Tag später notierte ich: Ruhig ging es im Wahllokal zu. Den Wahlhelfern war die Freude anzusehen, dass sich vereinzelte Leute – trotz Superspaziergehwetter – in das Wahl- und nicht in das Gartenlokal verirrten.

Mehr Leben am Abend im Rathaus der Stadt. Lange vor den ersten Prognosen im Fernsehen tranken die Volksvertreter bereits Bier oder Wein. Auf die Schnelle war nicht auszumachen, ob man sich Mut antrank oder ob man sich präventiv schon mal die Trauer weichspülte. Als die ersten Prognosen auf den Bildschirmen flimmerten, hallte lauter Jubel durch das alte Gemäuer. Der Jubel war stolz und selbstbewusst. Der Jubel kam von den Fans und Funktionären jener Partei, über die man vor vier und acht Jahren noch spöttelte. Jetzt haben sie erneut Punkte sammeln können. Und werden dennoch nicht auf der Regierungsbank sitzen.

Beim Verlassen des Rathauses läuft ein Vertreter einer der Randparteien vor mir. „In vier Jahren werde ich im Bundestag sitzen“, prophezeit er seiner kleinen Gefolgschaft. „Und in acht Jahren werde ich Kanzler.“

Wie gesagt, die Notiz stammt aus dem Jahr 2009. Diesmal herrschte großer Andrang im Wahllokal. Und was jenen Vertreter der Randpartei angeht, jetzt hat noch vier Jahre bis zur Kanzlerschaft.      

23.09.2013

 




WAHL

Einen Tag vor der Wahl wollten es heute alle noch einmal wissen. Überall waren in der Innenstadt wacklige Tapeziertische aufgebaut. An denen standen übermüdete Leute, die Sätze ohne Punkt und Kommas von sich ließen. In den Verschnaufpausen bedankten sich die Redner bei ihren Zuhörern. Kugelschreiber, Luftballon und Bonbons wurden verteilt.

Kaum hatte der Wahlkampf begonnen, wurde ihm nachgesagt, er sei langweilig. Was die Präsente anging, bei Kindergeburtstagen kommen die als Trostpreis zum Einsatz, hätte es sicher spannender sein können.

Trotzdem: Ich bekam wenig. Hier reichte man mir einen zerknitterten Handzettel. An anderer Stelle erhielt ich eine Zeitung. Die meisten Parteiakteure ließen mich ziehen. Auf meiner Stirn erkannten sie zwei Sätze: „Wage es ja nicht! Dich wähle ich bestimmt nicht!“

Ich hatte lange geübt, damit die Sätze perfekt saßen. Bis ich auf die Straße ging, verbrachte ich manchmal Stunden vor dem Spiegel. Immer wieder vergaß ich das ‚Nicht‘ aufzusetzen.

Auch die Leute hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Die Nachhilfe in Gesichtserkennung zahlte sich aus. Die Parteivertreter, die so taten, als sei ich Luft, schätzten mich richtig ein. Sie konnten sich ihr Werben sparen. Selbst gegen einen Geldkoffer als kleine Aufmerksamkeit würden sie meine Stimme nicht bekommen.

Obwohl. An einer Straßenecke waren wohl die Sätze auf meiner Stirn verrutscht. Anders kann ich mir es nicht erklären. Ein Mann, der eifrig Fähnchen verteilte, muss den Profilingkurs geschwänzt haben. Meinen bösen Blick, alle meine tiefen Falten missachtend, tänzelte der Mann an mich heran und wollte mit mir über den Kurs seiner Partei reden. „Welchen Kurs meinen Sie?“, wollte ich fragen. „Ihre Partei hat doch gar keinen Kurs.“ Dagegen log ich dem Fähnchenverteiler frech ins Gesicht: „Ich habe es eilig.“

Vor der nächsten Wahl werde ich ein paar Stunden mehr trainieren. Oder gleich den Stadtbummel verschieben.

21.09.2013

 




SONNTAGSBLUES

Kurz nach vier am Nachmittag. Wer jetzt nicht bei Kaffee und Kuchen sitzt, wird auch in einer Stunde an keinem gedeckten Tisch sitzen. Männer in farblosen Jogginganzügen stehen rauchend vor einem Waschsalon und telefonieren. Nur mit Unterwäsche gekleidete Muskelpakete boxen in einer Parkanlage mit unsichtbaren Gegnern. In den Kampfpausen kreist eine Wodkaflasche. Ein älterer Mann und eine viel jüngere Frau studieren das Hinweisschild vor einer Ruine. Der Mann redet auf die Frau ein. „Verloren“, höre ich. Und: „Das rettet die Menschheit auch nicht mehr.“ Die Frau schließt die Augen und nickt höflich.
An der Ampel stehen mir zwei junge Männer gegenüber. Anfang zwanzig, teuer gekleidet. Im Umkreis von hundert Metern betäubt ihr Deo jede Ameise. Die Männer starren mich an, plötzlich beginnen sie zu lachen. Als wir uns beim Überqueren der Straße auf gleicher Höhe treffen, zischt einer von beiden in meine Richtung: „Das nächste Mal schießen wir.“

15.09.2013

 




MEISTER

In einem Geschäft mit alten Stand- und Wanduhren kam ich letztens in der Oberpfalz mit dem Ladeninhaber ins Gespräch. Eigentlich war ich in das Geschäft gegangen, um das Ticken der Uhren zu hören. Aber gut, was gibt’s schon wirklich gratis.


Der Meister sprang aus seinem Arbeitszimmer, als würde er manchmal den Kuckuck einer seiner Uhren vertreten. Kaum stand er vor mir, sang er auch schon ein Loblied auf die Mechanik alter Uhren. Schließlich orakelte er, dass ich sicher Urlaub mache. „Lassen Sie mich raten?“, sagte er und seine Augen wurden noch größer hinter seinen Brillengläsern. „Aus Sachsen? Sie kommen bestimmt aus Sachsen.“
Ich staunte. Entweder besaß der Mann eine erstaunliche Menschenkenntnis. Oder mich hatten meine kurzen Hosen, meine Socken und Sandalen, meine Kamera, die mir über den Bauch hing und mein, nun ja, wenig perfektes Hochdeutsch verraten.
Es stellte sich heraus, dass der Uhrmacher bei einem Leipziger in die Lehre gegangen war. „Der gute Herr Ehlert hat schon mit vierzehn seinem Vater bei den Uhren geholfen“, sagte er mit belegter Stimme.
„Und heute“, gaukelte ich Interesse vor, „heute ist er noch immer mit Uhren beschäftigt?“
Der Mann verneinte, sein Lehrmeister sei krank. „Schwer krank“, sagte er und suchte auf dem Fußboden nach dem gestrigen Tag.
He, Mann, wollte ich erwidern. Sicher ist Ihr Meister alt, achtzig oder neunzig Jahre. Da ticken die Uhren schon etwas schneller. Also, was wollen Sie? Bleiben Sie locker, Mann. Entspannen Sie sich. Ich habe Urlaub.
Der Ladeninhaber schwieg. Also schwieg ich auch und gab mich den Uhren und ihrem beruhigenden Tick Tack hin. Ich erinnerte mich an die Uhr meiner Großmutter. Die Uhr thronte auf dem Schrank im Wohnzimmer und war der Mittelpunkt der vier Wände. Und wenn man dieser Uhr doch einmal weniger Beachtung schenkte, konnte man sich darauf verlassen, dass sie bald schwere Schläge von sich gab. Wohlig schwere Schläge im Viertelstundentakt.
Plötzlich läuteten sämtliche Uhren in dem Laden. Es war Mittagszeit. Ich schreckte auf und entdeckte eine Urkunde, die über der Kasse hing. Das Zertifikat war von Martin Ehlert ausgestellt, jenem Lehrmeister des Ladeninhabers. Mit feiner Goldschrift beglaubigte die Urkunde seinem Schützling in allen geprüften Punkten Qualitätsarbeit. Um dem Ganzen einen weiteren Hauch von Seriosität zu geben, war auch das Geburtsjahr von Martin Ehlert angegeben. Er war fünf Jahre jünger als ich.

01.09.2013

 




GLÜCK

Mit Bettlern ist das so eine Sache. Meist sind sie dort, wo ich sie nicht vermute. Und wenn ich sie entdeckt habe, ist es meist zu spät, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Ich bin dann immer hin- und hergerissen. Mehr hergerissen, schließlich kitzeln sie an meinem Gewissen. Und darauf könnte ich getrost verzichten. Um von der Innenstadt zu meinem Quartier zu gelangen, musste ich einige Male über eine Brücke gehen. Immer wieder begegnete ich dabei einem Mann. Der saß auf einem ausrangierten Campingstuhl und hielt einen Kaffeebecher ohne Kaffee in den Händen. Jedes Mal versuchte ich den Mann zu übersehen. Es blieb beim Versuch. Leichter wäre es gewesen die Dunkelheit in der Nacht zu ignorieren. Der Weg auf der Brücke war so schmal wie ein Handtuch. Deshalb musste ich den Mann wahrnehmen, auch wenn ich das nicht wollte. Ich bin sicher ein sozial denkender Mensch. Ein Freund des einfalllosen Bettelns bin ich deshalb noch lange nicht. Sich einfach hinsetzen und auf eine milde Gabe hoffen. Genau genommen ist das eine Frechheit, fürs Nichtstun Geld zu verlangen. Ein kleines Kunststück, ein paar nette Klänge zur Laute oder ein Gedicht von Goethe kann ich für meinen Euro schon verlangen.

Ich schob mich also mit meiner gefürchteten Eisblockmiene an dem Mann vorbei und hörte, wie der Mann etwas in sein unrasiertes Kinn murmelte. Diese nachgeworfenen Sätze der Schnorrer mag ich ganz besonders. Nicht nur, dass diese Typen mir den ganzen Tag verderben. Dreist wie die sind, texten die mich auch noch mit irgendwelchen Schwachsinn voll. Sie hätten seit gestern nichts gegessen. Die Mutter hätte Geburtstag. Das Amt hätte wieder nicht gezahlt. Diese Leier eben.
 

An meinem letzten Tag in P. überquerte ich noch einmal über die Brücke. In Gedanken schon auf der Heimfahrt, verstand ich erstmals, was der Mann zu mir sagte. Er wünschte einen guten Tag. Obwohl ich ihm nicht mal einen Knopf in den Becher geworfen hatte.
„Bitte“, hauchte er und versuchte mir etwas in die Jackentasche zu stecken. „Möge er Ihnen Glück bringen! Bitte, den einen Keks werden Sie mir doch nicht abschlagen können. Bitte!“

25.08.2013


 




EROTIK

Egon Tauber war ein Freund erotischer Literatur. Zumindest redete er sich das ein. Filme und Zeitschriften lehnte er ab, die waren unter seinem Niveau. Auch wenn diese viel schneller zum Eigentlichen kamen, Tauber zog die papierene Fassung von Höhe- und anderen Punkten vor.

Tauber hatte vor Jahren promoviert, seit vier Jahren war er Professor. Und durch seine Lehrtätigkeit kannte Tauber viele Leute. Und viele Leute kannten ihn. Das war gut für sein Ego, aber hinderlich, um in Buchläden seiner Stadt einfach so nach der von ihm bevorzugten Literatur zu fragen. Wenn er für Konferenzen in anderen Städten weilte, nutzte er dort die Möglichkeit des ungestörten Einkaufs. Er streifte durch die Buchhandlungen, wählte zunächst ein, zwei wissenschaftliche Bücher aus, um dann das Regal anzusteuern, welches mit Buchtiteln wie ‚Riesentanz und Säbelschwanz‘ oder ‚Das sprechende Laken‘ aufwartete.

Als Tauber letzten Freitag in Hellerstadt während einer Tagungspause noch rasch das neue Buch seines Intimfeindes Prof. Rüdiger Petzold-Wenninger kaufen wollte, sprach ihn die Kassiererin an. „Anfang der Woche haben wir die Fortsetzung von ‚Das Lachen der Venus‘ rein bekommen“, sagte die Frau mit einem süffisanten Lächeln. „Das erste Buch kennen Sie sicher, da treibt es die Gräfin mit dem ganzen Hof, dabei ist sie klein, fett und bucklig. Sie können sich bestimmt daran erinnern.“

Tauber stockte der Atem. Er hätte schwören können, dass er noch nie in Hellerstadt war. Kannte ihn die Kassiererin trotzdem? Unmöglich, sagte er sich. Gut, er hatte ein paar Bücher und Artikel vorgelegt, er saß in diversen Gremien und hin und wieder in einer Expertenrunde. „Danke“, sagte Tauber und vermied in die Augen der Kassiererin zu sehen. „Vielen Dank. Wirklich nett. Aber den zweiten Teil von ‚Venuslachen‘ habe ich mir gestern erst gekauft.“

24.08.2013


 


 

FEIERABEND

Am Uraniabrunnen von D. hatte eine junge Frau ihren Platz. Dort saß sie von 9 bis 18 Uhr auf einem speckigen Teppich. Wenn das mal ein fliegender Teppich war, dann war das lange her. Überall glotzten riesige Brandlöcher in den Tag, an manchen Stellen hielt der Stoff nur noch durch den guten Willen zusammen. Ab und an stand die Frau auf und spielte mit ihrem Hund. Oder sie spielte mit einem Tennisball. Manchmal spielte sie mit dem Hund und dem Ball gleichzeitig. Olympisches Multitasking, der klassische Frauensport.

Der Brunnen plätscherte unaufgeregt vor sich hin. Allein die Wasserfontänen, die in unregelmäßigen Abständen gen Himmel schossen, belebten die Szenerie. Ich fragte mich, weshalb die junge Frau sich diesen Ort ausgesucht hatte. Er lag abseits vom Innenstadttrubel, nur wenige Touristen verirrten sich hierher. Vielleicht lag es am Namen des Brunnens. Urania war von Hauptberuf Muse gewesen. Wartete die junge Frau auf den alles entscheidenden Kuss?

Am späten Nachmittag gesellte sich stets ein kleiner, rundlicher Mann zu der jungen Bettlerin. Der Mann, der seine wenigen Haare von einem zum anderen Ohr gekämmt hatte, trug einen perfekt geschnittenen Anzug. Aus der Brusttasche lugte keck ein seidenes Tuch. Einige Meter von der jungen Frau entfernt lehnte sich der Mann an eine Mauer und sah deren Treiben mit dem Ball und dem Hund aufmerksam zu. Er stand, die Aktentasche zwischen den Füßen, die Frau tollte herum. Voller Begeisterung schaute der Mann, auch wenn die Frau nur faul auf ihrem Teppich saß. Kein Zweifel, der Mann war ihr Fan.

Wenn von allen Kirchen mit unglaublichem Getöse die sechste Abendstunde eingeläutet wurde, begann die junge Frau ihren Platz zu räumen. Der Mann legte einen Schein in ihren Hut und streichelte dem Hund zaghaft über das Fell. Bevor die beiden, die Frau mit dem Teppich unter dem Arm und der Mann mit der Aktentasche an der Hand, in ihren Feierabend verschwanden, nickten sie einander zu. Und wenn sie bereits einige Meter in entgegengesetzte Richtungen gegangen waren, blieben sie wie auf Kommando stehen. Die junge Frau drehte sich dann um und rief: „Grüß Mama!“ Der Mann lächelte und legte zwei Finger an die rechte Schläfe, als würde er salutieren.

17.08.2013

 


 

 
VERSCHWÖRUNG

Bis vor kurzem hatte ich mit Verschwörungstheorien wenig am Hut. Wenn man mal nicht weiter weiß, unterhalten einen diese Theorien nett. Dachte ich. In einer der unzähligen Kirchen in R. stand am Ausgang ein kleiner Korb mit kleinen Zetteln. Auf den Papieren waren Bibelsprüche verewigt. Wie beim Loskauf schloss ich die Augen und griff lustvoll in das Körbchen. Vielleicht zog ich diesmal, nun nicht gleich den Hauptpreis, aber über den sechsstelligen Trostpreis hätte ich mich schon gefreut. Als ich die Augen wieder aufschlug, hatte ich einen bonbonfarbenen Zettel in der Hand. „In der Welt sei ihr in Bedrängnis; aber habt Mut: ich habe die Welt besiegt“, war auf dem Zettel vermerkt. Ich setzte mich, knarrend gab das alte Holz unter mir nach. Vielleicht war ich es, der, weil nicht mehr ganz frisch, beim Setzen knarrte. Wie dem auch sei. Eines stand fest. Der Spruch war falsch wiedergegeben. Beim vierten Wort fehlte eindeutig das D. „In der Welt seid ihr in Bedrängnis“, musste es heißen.
 

Ich überlegte, was es sich mit dem Weglassen des Buchstabens auf sich hatte. Hatte der Schreiber das D absichtlich weggelassen? War der ausgelassene Buchstabe ein Wink? D wie Drohung. D wie Drohne. D wie Dauerwerbesendung.  
Neben mir auf der Bank saß ein älterer Mann. Auch er hielt einen Zettel in der Hand. Und wie es schien, überlegte auch der Mann, was der Spruch von ihm wollte. „Ich werde einfach nicht daraus schlau“, sagte er zu mir gewandt. „‘Ich bin nicht mehr in der Welt, aber sie sind in der Welt, und ich sehe zu dir.‘ Das ergibt doch keinen Sinn. Oder? Haben Sie eine Idee, was das soll?“

Verwundert griff ich nach dem kleinen Zettel. Der Mann hatte den Spruch so vorgelesen, wie er dort stand. Auch sein Spruch stammte aus dem Evangelium Johannes. Und auch der Spruch war falsch abgeschrieben. Hier war aus einem G ein S geworden. ‚Gehe zu dir‘ musste es heißen, nicht ‚sehe zu dir‘.
Nachdem ich vor dem Mann mit meinem Bibelwissen geglänzt hatte, spitzte dieser listig die Lippen. „Also brauchen wir jetzt bloß alle Zettel, die im Korb liegen, auswerten“, sagte er leise, „und schon haben wir die eigentliche Nachricht.“
„Kommen Sie!“, protestierte ich. „Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass hinter dem Buchstabentausch eine tiefere Absicht steckt?! Von langer Hand geplant. Wow! Und wer steckt dahinter? Dan Brown? Oder der Vatikan?“
„Ich habe es gewusst!“, sagte der Mann, der mir nicht zugehört hatte. Längst war er aufgestanden und fischte die Zettel aus dem Korb. „Ich habe es schon immer gewusst“, sagte er mehr zu sich. „Es sind die vertauschten, die verschwundenen Buchstaben. Oha! Es sind die aus den absichtlichen Fehlern neu entstandenen Wörter, die einen zur Botschaft führen.“

14.08.2013

 


 

SCHALL

Offene Fenster. Ich liebe offene Fenster. „Komm! Ins Offene, Freund“, rief einst der Dichter Hölderlin. Ich bin kein Dichter, mein Ruf ist schlichter: „Komm ans offene Fenster!“ Offene Fenster sind für die Ohren und die Nase das reinste Vergnügen. Radio oder Fernsehen brauche ich nicht einzuschalten, durch das offene Fenster kommen genügend Klänge. Zehn Ohren müsste ich haben, um den bunten Mix aus Blasmusik, Schlager und Techno-Angriff einzuordnen. Andrea Berg im infarktgefährlichen Duett mit Lemmy Kilmister. Das berühmte Schkeuditzer Scharmützel-Sextett im unmusikalischen Ringen mit Unheilig. Wenn ich das als Klingelton hätte, würden mich sämtliche Bienen der Gegend umgarnen. Und nicht ständig diese Mückenschwärme. Unter mir höre ich das ältere Paar, als würden beide auf verschiedenen Kontinenten sitzen. Dabei lümmeln die auf dem Balkon, trinken Apfelwein und besprechen den morgigen Tag. Ein Arzttermin wird den anderen jagen. Und dann ist da noch diese Geburtstagsfeier am Abend. „Müssen wir dahin? Ich hab‘ nichts, wirklich nichts für diesen Karl Hermann übrig!“, klagt die Frau. Darauf ihr Mann mit einer Stimme, die sich tief durch die Schallmauer bohrt: „Das mag ja sein, aber als Geschenk, mein Hase, so als Geschenk ist das ein bisschen wenig.“
In der Wohnung über mir geht’s sportlich zu. Seit zwei Wochen übt das junge Paar für die nächste Turnmeisterschaft. Es poltert, als würden sie nebenbei kegeln und nach jedem gemeisterten Bocksprung jauchzen beide vergnügt über den Hof.
Und erst die Gerüche! Komm ans offene Fenster! Von rechts strömt süßlicher Zigarettenrauch, von links schwebt der Duft stressfreier Zwiebeln und Tofu aus der Freilandhaltung ins Zimmer. Von den Abfalltonnen weht Endzeitstimmung und durch die verschlossene Garagentür schlängeln sich milchige Benzinwölkchen gen Himmel. 
Wie gesagt, ich finde offene Fenster herrlich! Jeder Mieter bringt sich ein, jeder gibt das Beste.
Als ich heute nach Hause kam, sprach mich meine Nachbarin an. Lehrer müsste man sein, meinte sie, da könnte man zwei Monate auf Malle verbringen. Als ich ihr sagte, dass ich weder Lehrer bin, noch dass ich verreist war, sah sie mich mit großen Augen an. „Klar waren Sie verreist!“, sagte sie. „Wenn ich es Ihnen doch sage. Seit Wochen hört man nichts von Ihnen. Kein Husten oder wenigstens einen Pups. Klar waren Sie verreist!“

06.08.2013
 


 


FRIEDEN

Der Mann saß da und kaute Kaugummi. Unaufhörlich bewegte sich das Kinn als würde es dafür bezahlt. Der Kopf des Mannes hatte etwas von einem Raubvogel. Die Augen standen schräg und schauten lauernd umher. Die lange, sehr lange und gebogene Nase glich einem Schnabel, der das Kinn berührte. Die Oberarme des Mannes waren massig, sie hatten den Umfang von LKW-Reifen. Für seinen breiten Oberkörper war das T-Shirt mindestens eine Nummer zu klein, während die Jogginghose beim letzten Waschgang ausgelaufen schien. Nach dem ersten Halt, reklamierte eine alterslose Frau den Platz, auf dem der Mann saß, für sich. Sie hätte eine Reservierung, rief sie und wedelte ihren Beleg durch die klimatisierte Luft. Der Mann zog seine Fahrkarte aus der Hosentasche und wedelte zurück. „Ja“, sagte die Frau. „Sie haben ein Ticket, aber keine Platzreservierung.“

Der Mann antwortete etwas, was die Frau jedoch nicht verstand. Er verstand die Frau nicht, sie verstand den Mann nicht. Die übliche Kommunikation eben. Schließlich gab sich der Mann geschlagen und überließ der Frau das Feld. Bevor er sich trollte, beförderte er, selbst in der Niederlage noch ganz Kavalier, den Koffer der Frau ins Gepäckfach. Der Mann lief durch den Gang und blieb an der Tür stehen. Eine Stunde stand er dort, kaute Kaugummi und übte sich als Tür-Steher. Bis ihm das zu doof wurde und er sich auf einen freien Platz setzte. Kaum hatte er die Beine ausgestreckt und den alten mit einem neuen Kaugummi ausgetauscht, standen zwei Männer vor ihn. Stolz zeigten sie ihm ihre Dienstmarken. Als Gegenleistung verlangten sie seinen Ausweis. Als sich der Mann bereits aus dem Sitz schälen wollte, sagte einer Beamten mit einer Wiegenliedstimme: „Bleiben Sie ruhig. Bleiben Sie ganz ruhig. Und bleiben Sie sitzen. Wir wollen nur Ihren Ausweis. Ihren Pass, bitte.“

Sein Kollege überprüfte die Plastikkarte mit einer Art Lupe und Nachtsichtgerät und gab den Namen nebst Ausweisnummer völlig datenschutzgemäß für alle hörbar durchs Telefon. Der andere versuchte das Gespräch mit dem kauenden Herrn am Köcheln zu halten. Auf die Frage, woher er komme, sagte der Mann: „München.“ Auf die Frage, wohin er denn wolle, antwortete er ebenfalls: „München.“
„Vielleicht fährt der ja im Kreis“, raunte der Beamte, der den Ausweis studierte.
„Und zu wem wollen Sie?“
„Sister.“

Nachdem der Ausweis keine Unregelmäßigkeiten, der Anruf keine Suchmeldung erbracht hatte, wünschten die beiden Beamten eine gute Weiterfahrt, einen schönen Sonntag, einen erholsamen Aufenthalt in München. Der gerade noch in allen Dateien, auf allen Servern gesuchte Mann nickte müde. Dabei war es schwer auszumachen, ob er nickte, weil er die lieben Wünsche als eine Form der Wiedergutmachung akzeptierte, oder weil man ihn jetzt, wie er hoffte, für die nächsten zwei Stunden in Ruhe lassen würde.

03.08.2013


 



DU

Kaum saß ich, kam auch schon die Kellnerin an meinen Tisch. „Hallo“, sagte sie. Ich hallote zurück und nahm ihr die Speisekarte ab. Die Kellnerin musterte mich für einen Bruchteil einer Sekunde und fragte dann: „Was kann ich dir denn zu trinken bringen?“

Ehrlich gesagt, dass sie mich so schnell gecheckt hatte, berührte mich schon. Dass sie mich duzte, das fand ich dann doch. Na ja. Sicherheitshalber drehte ich mich um. Vielleicht galt die Frage einem, der hinter mir saß. Hinter mir saß aber niemand. Also schaute ich wieder zu der Kellnerin. Ihr Namensschild verriet mir ihren Vornamen. Mandy war jung, sehr jung, doch ein Kind, das zwischen Du und Sie keinen Unterschied macht, war sie auch nicht mehr. Ihre Lippen schienen in einen roten Farbeimer gefallen zu sein und die silbernen Stecker in den Wangen sahen aus wie Knöpfe. So schnell wie möglich ließ ich ihr Profil durch meine innere Personendatei rattern. Kannte ich die Frau? Woher kannte sie mich?

„Also gut“, sagte die Kellnerin, ungeübt im Umgang mit Leuten, die für eine einfache Frage drei Jahre Bedenkzeit brauchen. „Du sagst mir Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Okay? Wollen wir es so machen?“

Ich klappte die Speisekarte auf. Auf der zweiten Seite wurde ich darüber informiert, wo ich mich gerade befand. Das fand ich sehr aufmerksam. Falls ich einschlafen sollte und beim Aufwachen nicht wusste, wo ich war, könnte ich in die Karte schauen. Beim Umblättern entdeckte ich eine kleine Anmerkung: „Wir möchten Sie darauf hinweisen“, stand da, „dass wir die blauen Stühle für die Gäste vorbehalten haben, die von unserer freundlichen Bedienung geduzt werden wollen. Die grauen Stühle sind all jenen Besuchern vorbehalten, die auf ein korrektes Sie wertlegen.“

„Mandy“, rief ich der Kellnerin zu, „wenn du mir bitte ein Wasser bringen könntest“. Natürlich saß ich auf einem blauen Stuhl. Und natürlich blieb ich sitzen.

02.08.2013